Mit fortschreitendem Alter schleicht sich oft die Sexualität aus dem Leben der Menschen. Viele Paare verzichten sogar bewusst auf Zärtlichkeiten. Psychotherapeutin und Sexologin Dania Schiftan erklärt, wie es dazu kommt und wie Frauen und Männer zu einer erfüllteren Liebe zurückfinden.
Interview: Roland Grüter
Sex ist mittlerweile zum Smalltalk-Thema verkommen – Sex im Alter aber wird noch immer tabuisiert. Woher rührt dieser Gegensatz? Wahrscheinlich denken dabei alle automatisch an ihre Eltern – und winken ab. Die Vorstellung, dass auch diese Altersgruppe Sex haben könnte, mag man sich in jungen Jahren erst gar nicht vorstellen. Das hallt jedoch nach: Im Leben, in Diskussionen, ja selbst in der Forschung reicht das Interesse kaum je über das mittlere Alter hinaus – abgesehen von funktionalen Aspekten, wie sich etwa die Potenz verbessern lässt. Über 60 aber existiert das Thema Sex gar nicht mehr. Obwohl man weiss, dass Menschen dieses Alters durchaus aktiv sind.
Ist das Bedürfnis in höherem Alter tatsächlich noch da? Durchaus. Respektive: Man müsste die Frage umgekehrt stellen: Warum nicht? Mit Essen hört man ja im Alter auch nicht einfach auf … Man geht davon aus, dass über ein Viertel der über 70-Jährigen noch regelmässig Sex miteinander hat – obwohl die Häufigkeit an Bedeutung verliert. Ein weiterer Fakt, der darauf verweist: Bei den 50- bis 90-Jährigen werden mittlerweile rund doppelt bis dreifach so viele sexuell übertragbare Krankheiten registriert wie noch vor zehn Jahren. Das zeigen die Zahlen in Grossbritannien, den USA und Kanada. In der Schweiz ist das nicht anders. Der Grund: Seniorinnen und Senioren schützen sich beim Sex erst gar nicht, da Frauen dieses Alters nicht schwanger werden können.
Dania Schiftan arbeitet seit 15 Jahren als Psycho- und Sexualtherapeutin in Zürich. Sie schreibt regelmässig für Magazine und Zeitungen, unterhält einen eigenen Blog und gibt für die Schweizer Privatstation «Radio 1» wöchentlich Tipps in Sachen Beziehungen, Liebe und Sexualität. Sie hat diverse Bücher geschrieben, so etwa den Ratgeber «Coming soon – Orgasmus ist Übungssache» und «Keep it Coming – Guter Sex ist Übungssache».
Drei Viertel aber verzichten auf Körperlichkeiten: Weshalb beklagt sich kaum jemand darüber? Wer im Bewusstsein aufwächst, dass man im Alter keinen Sex mehr hat, stellt das Thema später auch für sich selbst in Frage. Entsprechend hakt man es ab. Man geht davon aus, dass die Sexualität ein Ablaufdatum hat – hat es aber nicht. Die Selbstzensur hat aber seinen Preis. Zu wenig Körperlichkeit macht beispielsweise depressiv.
Das Leistungsvermögen schwindet im Alter merkbar. Männer bekunden Mühe mit der Erektion, die Scheide der Frauen trocknet aus. Die Uhr tickt folglich schon etwas. Das stimmt. Trotzdem ist eine erfüllende Sexualität möglich. Männer können auch mit halb erigiertem Penis penetrieren, und Frauen, die nach der Menopause eine empfindlichere und trockenere Scheide haben, Lust empfinden. Eigentlich wären hier Urologen und Gynäkologinnen gefordert, den Menschen zu helfen, damit sie einen Umgang mit den Veränderungen finden. Tun sie aber nicht. Solche Themen werden in der Sprechstunde weitgehend tabuisiert. Man lässt Ältere damit allein.
Mit welchen Folgen? Aus Angst vor negativen Erfahrungen und Scham, nicht mehr voll leistungsfähig zu sein, verzichten ältere Menschen oft vorsorglich auf Sexualität. Eine offene, entspannte Gesprächskultur könnte enorm helfen, mit diesen Veränderungen umzugehen. Stattdessen behalten die Menschen ihre Sorgen lieber für sich. Und, das Allerschlimmste: Sie blasen in diesem Bereich zum Rückzug.
Bleiben den Menschen danach zumindest die Zärtlichkeit und Körpernähe? Leider oft genug: nein. Denn wer Angst vor Sex hat, widersetzt sich auch diesem Bereich. Viele Menschen befürchten, dass Kuscheln oder Streicheln als Einladung zu weiteren Körperlichkeiten interpretiert werden. Das ist nicht nur bei älteren Menschen so. In meiner Praxis erlebe ich immer wieder, dass selbst jüngere Paare Zärtlichkeiten meiden, damit diese nicht als Aufforderung für Sex missverstanden werden.
Was lässt sich dagegen tun? In meinen Therapien muss ich Paare oft neu lehren, den Kuss wieder als Kuss zu verstehen. Und wie sie es aushalten, falls es nicht weitergeht, auch wenn ein Paarteil Lust darauf hat. Wie man Nein sagen kann, ohne dass sich der Gegenpart zurückgestossen oder verletzt fühlt. Man müsste neue Codes aushandeln. Stattdessen aber schwinden Zärtlichkeiten im Lauf einer Beziehung, insbesondere Frauen nehmen sich oft bewusst zurück. Um auf Ihre Vermutung zurückzukommen: Zärtlichkeit könnte tatsächlich eine Alternative zu Sex sein. Doch wenn man damit Kränkungen und Gefahren verbindet, lässt man auch diese lieber sein.
Klingt traurig. Das klingt nicht nur traurig, es ist traurig. Ohne Sex und Zärtlichkeit verliert das Leben merklich an Farbe. Der Mensch ist auf Berührungen angewiesen, das haben unzählige Studien bewiesen. Ohne Berührungen sterben beispielsweise Babys oder nehmen grossen Schaden. Zärtlichkeiten helfen sogar mit, Krankheiten schneller zu überwinden, die halten uns länger gesund und fit, auch geistig. Auch das ist bewiesen.
Lässt sich der Stillstand in Beziehungen korrigieren? Ja, klar! Wir gehen davon aus, was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Doch das ist grundfalsch, auch in der Sexualität. Was aber stimmt: Je länger man ein Themenfeld brachliegen lässt, umso schwieriger wird es, sich dazu wieder Zugang zu verschaffen. Aber auch hier gilt: So schwer der Anfang sein mag, danach flutscht es meist einfacher als gedacht.
Wie lässt sich die Hürde überwinden? Mit Offenheit und Gesprächen. Wer sich anderen offenbart – egal wem –, der erfährt, dass man mit dem Thema nicht allein dasteht. Allein das fühlt sich viel besser an. Danach kann man sich allenfalls bei einer Fachperson wie mir Hilfe holen.
Wie gelingt der erste Schritt? Fassen Sie sich ein Herz. Rücken Sie Ihrer Liebsten, Ihrem Liebsten auf dem Sofa ein Stück näher und legen Sie einen Arm um sie/ihn. Was auch geht: sich beim Abschied zwei Sekunden länger in den Armen halten als gewohnt. Kleine Schritte führen ebenfalls ans Ziel. Man muss das Thema nicht gleich mit voller Wucht zur Sprache bringen.
Wie bringen Sie Ihren Klientinnen und Klienten bei, in ihren Beziehungen mehr Nähe zu schaffen? Ich rate ihnen beispielsweise, klar definierte Regeln festzulegen. Eine Umarmung bleibt eine Umarmung. Darüber hinaus ist es hilfreich, wenn sie ihre Körper in klar definierte Bereiche unterteilen. Arm, Bauch, Rücken, Flanke etc. Und klar festlegen, wo Berührungen erlaubt sind und wo nicht. Das mag skurril klingen, hilft aber dabei, sich näherzukommen, sich neu kennenzulernen. Möglichst ohne Stress.
Was, wenn sich Ältere selbst unattraktiv finden und sich der Partnerin, dem Partner nicht zumuten wollen? Das ist keine Seltenheit. Dann helfe ich den Menschen, sich selbst anzunehmen und wiederzuerkennen, dass sie andern durchaus etwas zu bieten haben: trotz schlaffer Haut und geringerem Stehvermögen. Man sieht sich meist viel kritischer als andere. Durch die Augen der Liebe und des Begehrens werden solche scheinbaren Mankos oft komplett übersehen.
Sie sagen, das Bewusstsein für eigene Bedürfnisse fehle: Wie entdeckt man sich selbst? Indem man sich selbst häufig berührt und erforscht. Bei vielen Frauen verändert sich im Alter beispielsweise die Empfindsamkeit des Klitoris-Kopfes. Sie sollten folglich neue Bereiche entdecken, eine andere Form von Erregung finden. Und Männer müssen erfahren, dass sie auch mit 40 Prozent Stehvermögen Lust empfinden und bescheren können. Hier ist der Informationsbedarf gross, weil sich niemand darum kümmert.
Was, wenn man allein ist: Lässt sich Zärtlichkeit kompensieren, etwa mit Haustieren oder dem Kontakt mit Enkelinnen und Enkeln? Durchaus. Körperkontakt ist immer wichtig – egal in welcher Form, auch wenn alltagsübliche Berührungen anders sind als erotische. Die Nähe zu einem Hund, zu einer Katze, eine Massage oder Zärtlichkeiten mit den eigenen Kindern oder Enkeln können Defizite tatsächlich mildern.
Wahrscheinlich schütteln an dieser Stelle ein paar Leserinnen und Leser den Kopf und sagen: All das lohnt sich nicht mehr für mich. Was antworten Sie diesen Skeptikerinnen und Skeptikern? Dass es sich in jedem Alter lohnt, die verbleibende Zeit erfüllter zu nutzen – nicht allein punkto Sex. Man kann natürlich so weitermachen wie bislang, das ist legitim. Falls man aber mit seinen Gewohnheiten unzufrieden ist, lohnt sich der Mut, umzuschwenken. Selbst kleine Neuerungen können viel Neues, viel Schönes bringen. Auch punkto Körperlichkeiten, der Sexualität. Wir alle leben länger, gesünder und lustvoller, wenn wir uns ein gewisses Mass an Erregung ins Leben holen. Aber: Alle dürfen für sich selbst entscheiden. Es gibt keine Pflicht, sich dem Thema neu anzunähern.
Das Thema interessiert Sie?
Werden Sie Abonnent/in der Zeitlupe.
Neben den Print-Ausgaben der Zeitlupe erhalten Sie Zugang zu sämtlichen Online-Inhalten von zeitlupe.ch, können sich alle Magazin-Artikel mit Hördateien vorlesen lassen und erhalten Zugang zur Online-Community «Treffpunkt».
Um diese Website optimal bereitzustellen, verwenden wir Cookies.
Mit der Nutzung dieser Website stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Erfahren Sie mehr in der
Datenschutzerklärung.