Kleine Auszeit, grosse Wirkung
Sich regelmässig kurze Fluchten aus dem Alltag zu gönnen, tut gut. Sie sind erholsam und gesund – aber nicht nur deshalb wichtig, wie ein Wissenschaftler der Universität Zürich erklärt.
Text: Fabian Rottmeier, Illustrationen: Sarenur Türk Koçak – @sayu.go
Der Mensch braucht soziale Kontakte, Bewegung, Erholung – und Abwechslung. Was dabei oft vergessen geht: Er benötigt dies nicht nur im Grossen, sondern auch im Kleinen. Mit kurzen Pausen, etwa nach einer Tätigkeit oder einer mentalen Belastung. Kleine Fluchten an Orte, um Energie zu tanken. Die Wissenschaft weiss heute, dass diese Unterbrechungen wichtiger sind als allgemein bekannt.
Daniel Hausmann-Thürig erklärt, weshalb. Der Wissenschaftliche Mitarbeiter am Psychologischen Institut der Universität Zürich hat unter anderem zu Minipausen im Alltag (MIA) geforscht. MIA dauern eine bis fünf Minuten. Die kurzen Auszeiten würden unsere körperliche und geistige Gesundheit stärken und seien Teil der Selbstfürsorge, schreibt er. Studien hätten gezeigt, dass gerade kürzere Pausen die Erholung und das subjektive Wohlbefinden fördern. Die Regel dabei laute, das Gegenteil zu suchen: Wer lange sass, soll sich bewegen, wer körperlich aktiv war, soll sich bewusst entspannen.
Hören Sie auf dein momentanes Bedürfnis
Stricken, Musik hören oder vertiefte Gespräche: Wie die von der Zeitlupe-Redaktion eingeholten Zitate auf den nächsten Seiten veranschaulichen, können diese kleinen Fluchten ganz unterschiedlich ausfallen. Entscheidend dabei sei, so Daniel Hausmann-Thürig, auf sein momentanes Bedürfnis zu hören. «Wir konnten aufzeigen, dass Bewegung der gefühlten Müdigkeit entgegenwirkt. Entspannung spendet – subjektiv empfunden – Energie. Soziale Kontakte wiederum können erholsam wirken.»
Manche suchen auch bewusst die Isolation. So schreibt etwa der deutsche Benediktinerpater und Autor Anselm Grün in seinem Buch «Was im Alltag gut tut», dass er vom Äusseren nach innen gehe. «Zu diesem Raum der Stille hat der Lärm um mich herum keinen Zutritt.» Auch Erwartungen nicht. In diesem inneren Zufluchtsort laufe er aber nicht vor den Problemen davon. Er nehme Zuflucht, um sich «innerlich erneuert und erfrischt» wieder dem Alltag zuzuwenden.
Zum Nachahmen
Etwas Inspiration gefällig? Hier sind 15 Ideen für ein erholsames Time-out.
Der britische Müssiggänger Tom Hodgkinson empfiehlt in seinem Buch «Kleine Auszeiten im Alltag» u. a.:
- Setzen Sie sich an ein Lagerfeuer
- Starren Sie minutenlang eine Wand an
- Planen Sie ein Fest
- Durchwandern Sie gewohnte Orte mit offenen Augen
- Suchen Sie einen Wald, See oder Fluss auf
- Machen Sie bewusst Tee- und Kaffeepausen
- Tragen Sie im Kalender einen «Betttag» (nicht Bettag!) ein
- Schreiben Sie jeden Morgen 15 Minuten ins Tagebuch
- Pausieren Sie auf einer öffentlichen Bank
Die Zeitlupe rät zudem:
- Überlegen Sie sich, welche drei Dinge Sie zuletzt gefreut haben
- Lesen Sie täglich zur selben Zeit fünf Buchseiten
- Hören Sie mit geschlossenen Augen ein Lied
- Machen Sie eine Atemübung: zeitlupe.ch/atem
- Dehnen Sie Ihren Nacken («Liebscher & Bracht» googeln!)
- Schreiben Sie einer Person, die Sie gerne wieder einmal sehen möchten
Es erstaunt, dass Pausen gerade in der Arbeitswelt noch immer einen schweren Stand haben. Nur wer etwas tut, scheint auch etwas zu leisten. Dabei sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Pausen klar: Diese auszulassen, ist nicht nur aus gesundheitlicher, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht ein Trugschluss. Denn: Pausen machen produktiver. Daniel Hausmann-Thürig: «Kurze Pausen führen zu einer besseren Konzentrationsfähigkeit, Lernleistung, Lösungsfindung und fördern die Kreativität.» Ebenso konnte man weitere positive Effekte auf die Stimmung, Aufmerksamkeit, Müdigkeit, Vitalität und Leistung nachweisen. «Es scheint paradox: Je bewusster, gezielter und öfter eine Person kürzere Arbeitspausen macht, desto gesünder und leistungsfähiger ist sie auf lange Sicht.»
Die kleinen Ausbrüche aus dem Trott helfen überdies, eine Aussenperspektive zu Aufgaben, Problemen oder Tätigkeiten zu erhalten und Distanz zu gewinnen. Sie schaffen Raum für neue Gedanken und Entscheidungen. Deshalb zum Schluss die Frage an den Experten: Wie oft sollte ich mir täglich eine Auszeit gönnen? Daniel Hausmann-Thürig rät: «So oft wie möglich. Idealerweise verteilt über den ganzen Tag.» Man lerne: Bewusste Ablenkung lohnt sich – in mehrfacher Hinsicht.
Julia Onken (82), Psychotherapeutin und Autorin
«Wenn ich einen langen Tag damit verbracht habe, mich mit psychologischen Themen und Theorien auseinanderzusetzen, werde ich abends von einem unwiderstehlichen Drang überfallen, etwas mit den Händen zu tun. Während andere beim Joggen ihre Energie in Beinarbeit umsetzen, habe ich Lust auf Handarbeit: auf Gobelinstickerei. Zwar sind es nur Minibewegungen, mit denen ich winzige Stiche in den Stoffgrund setze, aber sie lösen ein köstliches Gefühl aus, das beinahe schon süchtig macht. Gelegentlich werde ich für mein altbackenes Hobby mit Spott bedacht. Aber mir tut diese Beschäftigung gut. Und wenn ich da so friedlich und im Zeitlupentempo die Kästchen besticke, denkt ‹es› im Hintergrund fast von alleine nach.»
Susanna Rüegger Köchli (56)
«Meine Meditationen und Atemübungen – ob geführt oder nicht – sind für mich kleine Auszeiten, die mich aus meinem Kopf heraus ins Hier und Jetzt bringen. Und mich zur Ruhe kommen lassen. Danach fühle ich mich – körperlich, emotional und geistig – entspannt und gestärkt.»
Maja Brunner (73), Sängerin und Schauspielerin
«Meine Spaziergänge rund um Einsiedeln verbinde ich gerne mit einem Besuch der Klosterkirche. In der stillen, feierlichen Atmosphäre kann ich durchatmen, ganz bei mir sein und die Welt aussen vor lassen. Zum Schluss zünde ich eine Kerze an, um das Versprechen für eine erfüllte Bitte einzulösen – kleine Erpressungen sind hier wohl erlaubt – oder einfach, um Danke zu sagen. Ich habe immer einen Anlass, um mich zu bedanken.»
Chris von Rohr (72), Musiker, Produzent, Autor
«Da ich das immense Glück habe, meine Leidenschaft als Beruf leben zu dürfen, ist mein Alltag ein Traum. Ich tue, was ich liebe. Und wenn ich stressmässig wirklich mal im Schilf stehe, gehe ich einfach in meinen Garten und schaue dem Unkraut zu, wie es munter wächst.»
Petra Wiersma (57)
«In den Bergen fühle ich mich von allem befreit, was mich beschäftigt, und kann meine Batterien wieder aufladen.»
Walter Andreas Müller (78), Schauspieler
«Ein wohltuendes Gefühl ist für mich, wenn ich mit meinem Rolls-Royce ein Ausfährtli mache und an einem schönen Ort essen gehe. Mit dem Oldtimer habe ich mir vor ein paar Jahren einen Wunschtraum erfüllt, der mir viel Freude bereitet. Abschalt-Momente gönne ich mir aber auch mit kleinen Reisen – regelmässig ein paar Tage im Tessin und in Nizza. Oder ich geniesse daheim auf der Terrasse ein Glas Wein und eine Zigarre.»
«Beim Skateboarding kann ich loslassen.»
Arthur Honegger (45), «10vor10»-Moderator und Journalist
«Ich liebe meinen Job. Aber er macht es mir öfter schwierig, abzuschalten: Viele Geschichten beschäftigen mich noch lange nach einer Sendung. Beim Skateboarding kann ich loslassen und bin zwangsläufig präsent – damit ein Trick gelingt. Zudem ist eine Verletzung stets nur eine Unachtsamkeit entfernt. Skaten hat, was die Kopfarbeit angeht, eine durchaus spirituelle Dimension. Nach einer guten ‹Session› bin ich offen für neue Gedanken, Geschichten und bereit dafür, dass sie mich beschäftigen.»
Franz Birrer (86)
«Nach meiner Pensionierung begann ich, Holzspielsachen zu schnitzen, um nicht in ein Loch zu fallen. Etwa Lastwagen zum Nachziehen oder wackelnde Stossenten. Auch Heu- oder Güllewagen verkaufe ich.»
Beat Schlatter (63), Schauspieler und Autor
«Vor einiger Zeit habe ich wieder lange Mittagspausen mit Freunden eingeführt. Nach dem Essen gehen wir nicht direkt zurück zur Arbeit, sondern bleiben sitzen und trinken entspannt eine Flasche Wein und hören einander zu. Richtiges Zuhören heisst, sich mit nichts anderem zu beschäftigen und sich voll und ganz auf den anderen einzulassen. Die Gedanken um das eigene Ich und was noch alles zu tun wäre, bleiben in einem verschlossenen Sack. Diese Auszeiten haben entspannungsmässig eine grosse Wirkungskraft.»
Ruth Küttel (75)
«Zwei, drei Mal mache ich im Sommer einen Ausflug zur Reuss-Quelle auf dem Gotthard. Das tut mir wohl, vor allem, wenn ich etwas auf dem Herzen habe. Schon beim ersten Besuch hatte ich das Gefühl, dort die Anwesenheit meines Vaters zu spüren. Er war und ist mein Lieblingsmensch und an diesem Ort ist er mir ganz nah und vertraut. Das gibt mir Kraft und erfüllt mich mit Zuversicht.»
«Bach hören ist wie nach Hause kommen.»
Rita Famos (58), Theologin und Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz
«Fluchtgedanken habe ich oft in den vollen Zügen zwischen Zürich und Bern. Alle arbeiten, telefonieren, diskutieren laut. Hier habe ich manchmal das Bedürfnis, der Hektik zu entfliehen. Ich setze meine Kopfhörer auf, lehne zurück und höre Johann Sebastian Bach. Einen Choral, eine Arie, ein paar Takte wohltemperiertes Klavier. Diese kurzen musikalischen Auszeiten sind für mich wie kleine Inseln der Besinnung und Erneuerung. Bach ist wie nach Hause kommen, zur Ruhe finden.»
Daniel Boric (50)
«Nach einem anstrengenden Arbeitstag packe ich meine Siebensachen, fahre an den See – und gehe tauchen. Das Eintauchen in diese andere Welt, die Ruhe, die Gelassenheit und die Sorglosigkeit unter Wasser faszinieren mich. Ich fühle mich nach jedem Tauchgang erholt und kehre mit einem guten Gefühl zu meiner Familie zurück. Einmal pro Woche brauche ich diese Auszeit.»
Cédric Schild (32), Journalist, Moderator, Comedian
«Für meine Auszeit klingelt der Wecker um 2 Uhr früh. Dann begebe ich mich zum Fischen an den Zürisee. War ich mal wieder trotz aller Planung vier Stunden ohne einen Fang unterwegs, wird aus der Auszeit ein schlechter Fiebertraum. Die wenigen Tage, an denen ich grosse Fische fange, entschädigen aber für alles.»
Sandra Boner (49), SRF-«Meteo»-Moderatorin
«Gut tut mir mein ‹Aarelauf›, wie ich ihn nenne: leichtes Joggen der Aare entlang. Er ist ideal, um meinen Kopf zu lüften – ausräumen, entfernen und neu einordnen. Entspannend ist auch, wenn ich durch Brockenstuben streife. Da bin ich in Gedanken ganz bei den Objekten, die ich entdecke. Zu ihnen überlege ich mir gerne Geschichten, wer dieses oder jenes warum besessen hat.»
Laurent Bernard (55)
«Seit kurzem halte ich drei Hühner im Garten. Ich hätte nie gedacht, dass sie mit ihrer Vitalität so beruhigend wirken. Wenn ich mich um sie kümmere, sie beim Herumlaufen beobachte oder ihr Gackern höre, vergesse ich alles um mich herum. Sie bringen mir so viel Freude und bescheren mir erst noch täglich drei Eier.»
«Bewegung tut mir gut.»
Rita Fuhrer (72), ehemalige SVP-Politikerin
«Wenn mich etwas umtreibt und ich das Gefühl habe, etwas dagegen unternehmen zu müssen, dann steige ich aufs Rennvelo und pedale mir den Ärger oder die Sorgen von der Seele. Die Bewegung tut meinem Körper gut, ich bin an der frischen Luft und erkenne mittlerweile sogar am Geruch, wo ich durchfahre. Das bringt mich sofort auf andere Gedanken.»
Rolf Stirnemann (75)
«Auf meinen täglichen ‹Wanderungen› früh am Morgen erlebe ich immer wieder wundervolle ‹Flucht-Erlebnisse›. Neben dem Wetter gibt es auch andere bewegende Naturereignisse. Etwa kürzlich, als die Sonne unzählige Rosen beleuchtete, die sich langsam vom Regen erholten. Die lieblichen Farben sorgten bei mir für Glücksgefühle.»
Monika Steineberg (58)
«Ich schwimme seit 20 Jahren leidenschaftlich gern im kalten Wasser. Beim Ein- und Abtauchen bin ich ganz bei mir und fokussiere mich auf meine Bewegung: ruhig, stetig, vorwärts. Sorgen und Probleme treten in den Hintergrund. Danach fühle ich mich enorm lebendig, und das über die Jahre erlernte Bewusstsein, dass vieles möglich ist und ich vieles bewältigen kann, bestärkt mich.»
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