Menschen sind oft ungemein nachtragend, werden sie verletzt oder beleidigt. Idealerweise schaffen sie es, den Zorn zu überwinden und anderen zu verzeihen, ja sogar zu vergeben. Dieser Prozess lohnt sich. Er stiftet (Seelen-)Frieden.
Text: Roland Grüter
Der Anruf kam gänzlich unerwartet. Gabriela und ich hatten uns mindestens dreissig Jahre nicht mehr gesehen, geschrieben oder gesprochen, obwohl wir einst gemeinsam um die Häuser zogen. Wir bejammerten unseren Liebeskummer, besprachen zusammen unsere Zukunftspläne, so wie es gute Freunde halt tun. Dann gerieten wir aneinander. Es kam zum Bruch. Gabriela verschwand aus meinem Leben. Sie zog in die Welt hinaus, lebte auf den Philippinen, Bali und in Italien, wurde Mutter von drei Kindern und kehrte irgendwann in die Schweiz zurück. Seither lebt sie mit ihrer Familie in Beromünster, arbeitet als Bloggerin und Textcoachin. All das bekam ich aus Distanz mit, unsere Wege kreuzten sich aber seit ihrem Weggang nie mehr. Nun war sie plötzlich wieder da. «Hey, Roli, wie geht es Dir? – Hier Gabriela. Erinnerst Du Dich …» Ich war überrascht, den hellen Klang ihrer Stimme zu hören. Das Gespräch kam erstaunlich schnell in Gang, und als sie mich fragte, ob ich Lust und Zeit für ein Treffen hätte, zögerte ich keine Sekunde: Klar.
Stoff für kitschige Romane
Ein paar Tage später sassen wir zusammen in einer Bar in Zürich. Gabriela hatte sich ihre wachen Augen, ihr mildes Lächeln bewahrt, ich freute mich über das Wiedersehen. Doch bevor wir richtig ins Gespräch fanden, sagte sie: «Es hat einen ganz bestimmten Grund, weshalb ich dich angerufen habe.» Ich erschrak und befürchtete einen Disput über unseren Konflikt, doch das Gegenteil war der Fall. «Mir sind die Vorfälle, die uns auseinanderbrachten, immer wieder in den Sinn gekommen – und ich sehe sie rückblickend anders. Es war unbedacht, was ich damals gemacht hatte. Ich hatte zwar nichts Böses im Sinn, war aber unter Druck und genervt und darum ungerecht. Erst später merkte ich, dass ich unsere Freundschaft verraten habe. Das tut mir ausgesprochen leid. Mir ist es wichtig, dir das zu sagen.» Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet.
Sorry. Verzeihung. Entschuldigung. In alltäglichen Situationen, wenn wir verspätet zu einer Sitzung kommen oder jemanden im Gehetze anrempeln, gehen uns diese Worte leicht über die Lippen. Schon Kinder lehren wir, schlagen sie auf dem Spielplatz den Nachbarsjungen mit der Sandschaufel: «Sag Entschuldigung!» So, als könnten die zwei Worte den Frevel wegmachen. Auch in der Literatur, in Liebesliedern und Hollywoodfilmen kommt der Akt des Verzeihens regelmässig vor, meist ist er der Anfang eines Happy Ends. All das kannte ich. Aber, dass mir jemand nach dreissig Jahren die Hand reicht und Verzeihung nicht als Imperativ, sondern als Angebot offeriert, das war neu. Und gleichzeitig berührend und beeindruckend.
Instrument der Seelenpflege
Die Begegnung liess mich genauer über die Kunst des Verzeihens nachdenken. Was genau macht sie mit uns? Weshalb tun wir uns damit dermassen schwer, lassen unbewältigte Baustellen über Jahrzehnte ruhen, statt sie wie Gabriela zu klären? Bei schweren körperlichen und psychischen Verletzungen lässt sich erklären, weshalb wir anderen nicht die Hand reichen mögen, klar. Aber sonst? Ich hatte am Beispiel meiner Mutter gesehen, wohin es führen kann, wenn wir diesen Schritt nicht machen können oder wollen: zu Härte und Bitternis. Meine Mutter hatte sich im Dorf mit vielen Freundinnen zerstritten und musste deshalb auf ihren Wegen ständig die Strassenseite wechseln, damit sie ihren angeblichen Widersacherinnen nicht in die Augen schauen musste. Ironie des Schicksals: Am Ende des Lebens sass sie mit all ihren «Freindinnen» Stuhl an Stuhl im Altersheim – und die schwelenden Konflikte mit ihnen.
Lange wurde Verzeihen und Vergeben moralisiert. Sie waren Sache einer höheren Instanz, der Religion. Erst vor erstaunlich kurzer Zeit entdeckte die Psychologie die höchst komplexe Disziplin für sich. Mittlerweile sieht sie diese als wichtiges Instrument der Seelenpflege: als Mittel, mit dem wir unser Leben lebenswerter machen können. Denn wer verzeihen kann, erhält sich nachweislich gesund, psychisch und physisch. Zwar werden nicht alle zwingend krank, wenn sie darauf verzichten. Aber Verletzungen, Betrug und Beleidigungen wirken oft enorm lange nach, gehen uns jahrelang nicht aus dem Sinn und prägen im schlechtesten Fall unser Dasein sogar bis ans Ende. Sind wir aber dazu bereit, anderen – oder uns selbst – Verstösse zu vergeben, kehrt innerer Frieden ein, und wir können wieder in der Gegenwart leben. Wir durchtrennen damit ein imaginäres Gummiband, das uns immer wieder in die Vergangenheit zieht. Damit entlasten wir also nicht etwa den vermeintlichen «Täter», wie allgemein angenommen, sondern uns selbst. Man sagt, ohne Altlasten sterbe es sich besser. Ohne Altlasten lässt es sich aber auch weit besser leben.
Hang zur Perfektion
Weshalb also befreien wir uns nicht häufiger davon? «Wir leben in einer Welt, in der Perfektion hoch geschätzt wird», sagt Gabriela: «Wir wollen perfekte Partner, perfekte Eltern, perfekte Arbeitskollegen sein. Dieselben Ansprüche stellen wir an andere. Fehler und Fehlverhalten widersprechen diesem Zeitgeist – und entsprechende Eingeständnisse gleich doppelt.» Wie die Verzeihensforschung weiss, sind auch Prägungen und das soziale Umfeld mitverantwortlich, wie versöhnungsbereit wir sind. Menschen mit grosser Empathie fällt es offenbar leichter, zu verzeihen. Auch unsere Persönlichkeit befähigt uns dazu: Ein gutes Selbstwertgefühl ist dabei hilfreich. Denn wer zu eigenen Schwächen steht, kann sie auch bei anderen besser entschuldigen.
Manchmal ist Nachsicht aber auch bloss eine Altersfrage, wie Mathias Allemand aus seinen Studien weiss. Der Titularprofessor der Universität Zürich forscht seit langem im Bereich Persönlichkeitsentwicklung und stellt die Kultur des Verzeihens schon seit seinem Studium regelmässig ins Zentrum seiner Arbeit. Er versucht wissenschaftlich zu ergründen, wie Verzeihen genau funktioniert. Dabei kam er zum Schluss, dass im Alter die Bereitschaft dazu wächst. «In späten Lebensabschnitten schauen viele Frauen und Männer auf ihren Weg zurück und wollen alte Stolpersteine wegräumen», sagt er.
Vergeben und Verzeihen – ein wichtiger Unterschied
Im Grunde genommen bedeuten beide Wörter: anderen nicht länger böse sein oder nicht länger auf Wiedergutmachung hoffen, obwohl wir verletzt oder beleidigt wurden. Betrachtet man die ursprüngliche Bedeutung der Begriffe, ergeben sich wichtige Unterschiede: Verzeihen stammt vom Verb «zeihen» ab. Dies bedeutet auf einen Schuldigen «zeigen», also eine Person an- oder beschuldigen. Verzeihen meint folglich genau das Gegenteil: Eine Bezichtigung oder Anklage wird zurückgezogen. Damit aber wird ein Übergriff also nicht schöngeredet oder abgemildert. Im Wort Vergeben hingegen steckt das Wort «Geben». Im Prozess des Vergebens wird der schuldigen Person die Schuld erlassen. Es wird ihr also etwas «gegeben». Vergebung gründet darum tiefer als Verzeihung. Sie ist sozusagen ein Freispruch.
77 Prozent seiner Studienteilnehmer fanden es wichtig, negative Teile ihrer Lebensgeschichte aufzuarbeiten. «Damit eröffnet sich ihnen eine Möglichkeit, das eigene Leben nachträglich zu verstehen», sagt Mathias Allemand. «Älteren Menschen fällt es überdies oft leichter als jüngeren, Verzeihungsstrategien zu entwickeln – weil sie im Umgang mit Verletzungen geübter sind und wissen, dass Kränkungen und Verletzungen zum Leben gehören.» Ein weiterer Grund, der ältere Menschen offenbar versöhnlich(er) macht: Ihnen ist es wichtig, bestehende Beziehungen zu erhalten, da häufig nur wenige neue Freundschaften dazukommen.
Den Tod vor Augen
Noch dringlicher wird das Bedürfnis mit dem Tod vor Augen. «Das Bedürfnis, Altes abzuschliessen und die Schwelle zum Tod unbelastet, mit reiner Seele und einem guten Gefühl zu überschreiten ist gross – auch wenn wir nicht wissen, was folgt», sagt Monika Renz, die seit 25 Jahren als Psychoonkologin im Kantonsspital St. Gallen arbeitet und viele Versöhnungsprozesse begleitet und in einem Forschungsprojekt beobachtet hat. «Die Todesnähe ist ein Spezialfall. Alles geschieht stärker, schneller, auch das Versöhnen und Verzeihen.» Viele Menschen wollten am Ende des Lebens nochmals von vorne anfangen: «Es ist ein Abschliessen und ein Neubeginn in einem.»
Monika Renz hat ihre Erfahrungen in einem Buch zusammengefasst, schildert berührende Begegnungen. Darin beschreibt sie aber auch, was wir daraus fürs Leben ableiten können: «Versöhnungen finden oft vor neuen Lebensabschnitten statt. Man möchte alte Sachen im Guten hinter sich lassen und völlig neu eintreten in das, was kommt. Damit ich vergeben kann, brauche ich Hoffnungserfahrungen, so etwa eine verstehende Drittperson oder das Berührtsein vom Neuen.» Sie selbst ist überrascht, wozu uns Hoffnungserfahrungen ermächtigen: zur Entscheidung, Vergebung zu wollen, und damit ist diese bereits eingeleitet. Will heissen: Vergeben und verzeihen ist selbst am Ende unseres Daseins möglich, auch wenn wir uns davor schwertun.
Gabriela will mitten im Leben Ordnung schaffen. Dabei hat sie jene Punkte sondiert, an denen es zu Verletzungen kam. Drei alte Freundinnen und Freunde schrieb sie in dieser Sache an, um ihnen ihre Entschuldigung anzubieten. Hatte sie keine Angst, zurückgewiesen zu werden? «Doch, natürlich», sagt sie: «Aber das Risiko war es mir wert. Doch ich habe nur Schönes erlebt, sämtliche Begegnungen waren voller Wärme», sagt sie: «Die Menschen fühlten sich durch meinen Schritt geachtet und respektiert.» So ist es auch mir ergangen.
Ein langwieriger Prozess
Verzeihen beginnt meist mit einer Entscheidung, dieser folgt aber zwingend ein langwieriger Prozess: «ein intensives inneres Selbstgespräch», wie der verstorbene Psychologieprofessor und Psychotherapeut Reinhard Tausch einst schrieb. «Man muss dazu bereit sein, unschöne Vorfälle, Verletzungen und sich selbst zu hinterfragen – also Geschehnisse und das eigene Verhalten neu einzuordnen», ist auch Gabriela überzeugt. Sie selbst liess sich von den Weltreligionen, von Tribe-Kulturen inspirieren, aber auch von der christlichen Tradition.
«Ich bin zwar keine gläubige Frau im traditionellen Sinn, aber die Bitte ‹Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern› berührt mich.» Er umfasse eine zentrale Botschaft und verweise darauf, dass wir alle nicht perfekt durchs Leben wandeln und dadurch immer wieder selbst auf Milde angewiesen sind: «Das sollte auch für andere gelten. So sehr wir uns bemühen, wir verletzen andere Menschen. Oft ungewollt und ohne böse Absicht.» Sie ist davon überzeugt: «Die Anerkennung von Fehltritten und das Verzeihen stiftet Frieden, bei sich und andern.»
Den inneren Kompass ausrichten
Deshalb kam sie auf mich zu, um die Vorfälle vor 30 Jahren zu klären. Wir waren damals jung, wild und wollten die Welt mitprägen, auch in unserem Beruf. Wir arbeiteten für die gleiche Wochenzeitung, ich war Gabrielas Vorgesetzter. Doch statt neue Ufer zu erreichen, gerieten wir in die Kritik unserer Kolleginnen und Kollegen. Die Anfeindungen wuchsen, sie zogen sich über Monate hin, sie wurden immer schlimmer. Ich versuchte die Situation auszusitzen, zu beschwichtigen. Doch die Not wuchs. Dann machte Gabriela, was sie in Krisensituationen immer tut: Sie handelte. Sie wollte dem Elend ein Ende setzen, wandte sich an den Chefredaktor, bemängelte zu Recht meinen defensiven Führungsstil, forderte meine Absetzung.
Das führte zum besagten Eklat. Ich war gekränkt, fühlte mich hintergangen. Doch meine Bitternis verzog sich schnell. Ich hatte mich später ebenfalls mit dem Streit beschäftigt und meine Rolle neu bewertet. Gabriela war für mich längst nicht mehr die Böse, ich das Opfer. Auch das konnten wir an unserem gemeinsamen Abend klären. Prima.
Mathias Allemand warnt aber vor sogenanntem «Pseudoverzeihen». Denn wer sich versöhnlich zeigt, ohne den inneren Kompass neu auszurichten, vermag damit den inneren Groll nicht abzulegen. Das Kränkende bleibt dann an der Seele kleben wie Dreck an den Sohlen. «Verzeihen ist auch nicht für alle ein richtiger Weg, und das ist gut so», sagt Mathias Allemand. «Man kann stark belastende oder traumatisierende Geschehnisse auch anders aufarbeiten, etwa in einer Therapie.»
Wer andern aber verzeihen kann, erschliesst für sich neue Wege. Wir überwinden negative Gefühle, fühlen uns dadurch mächtig statt ohnmächtig. Und sind ganz nebenbei sogar besser gerüstet, um mit künftigen Kränkungen umzugehen. Manchmal muss man jemandem nicht einmal mitteilen, dass man ihm verziehen hat. «Vergeben lässt sich gut mit sich selbst richten», bilanzierte Reinhard Tausch. Setzt man sich aber an einen gemeinsamen Tisch, wie Gabriela und ich es getan haben, kommt es eventuell sogar zu einer Versöhnung. Ob daraus eine neue Freundschaft wächst, wird sich weisen.
Buchtipp: «Versöhnung und Vergebung – Wie Prozesse der Befreiung im Leben und im Sterben möglich werden», Monika Renz, Herder Verlag, CHF 31.90
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