
Ein Hämpfeli Pillen am Tag – ist das wirklich gesund?
20 bis 30 Prozent aller Menschen über 70 Jahren konsumieren täglich mehr als vier oder fünf Arzneimittel. Warum viele Medikamente nicht immer viel Gesundheit bedeuten, erklärt Stefan Neuner-Jehle vom Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich.
Text: Martina Novak
Ein alter Mann hatte zahlreiche Krankheiten und Gebrechen und wollte nicht mehr leben. Er setzte daher alle Medikamente ab und wartete auf den Tod. Doch statt sich immer schlechter zu fühlen, ging es ihm zunehmend besser und er erlangte frische Lebenskraft und neuen Lebenswillen.
Über die Glaubwürdigkeit dieser Anekdote lässt sich streiten, aber sie enthält zumindest einen wahren Kern: Medikamente nützen nicht nur, sondern können das Befinden massiv beeinträchtigen. Das kann zu einem Problem werden, denn mit höherem Alter nehmen bei den meisten Menschen die gesundheitlichen Probleme zu. Und mit der Anzahl Diagnosen vergrössert sich die Menge der täglich zu schluckenden Pillen oder anderer verschreibungspflichtiger sowie rezeptfreier Pillen, Pulver, Salben und Säfte.
Wie Prof. Dr. med. Stefan Neuner-Jehle, Leiter Chronic Care am Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich, sagt, sei laut Studien aus der Schweiz, Deutschland und den USA 20 bis 30 Prozent aller Patientinnen und Patienten über 70 Jahre polypharmaziert. Der Fachbegriff Polypharmazie bezeichnet den Zustand, dass die Betroffenen mehr als vier oder fünf Arzneimittel gleichzeitig und regelmässig einnehmen oder anwenden (s. Box). Der tägliche Medikamentencocktail sorgt aber nicht immer für eine Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Patientinnen und Patienten. Im Gegenteil, manche Beschwerden können sich verstärken oder es treten neue Probleme auf.
«Einerseits bestehen Risiken durch Wechselwirkungen zwischen den Medikamenten, die neue chemische Verbindungen eingehen. Zudem konkurrieren viele Medikamente um die gleichen «Andockstationen». Das heisst, beim gleichzeitigen Einsatz wird die Wirkung eines Medikaments abgeschwächt oder verstärkt», führt Experte Stefan Neuner-Jehle aus.
Besonders bekannte Interaktionen betreffen die Kombination von bestimmten Antibiotika oder Pilzmitteln mit Herzkreislauf-Mitteln oder Hormonpräparaten. Vielen Patientinnen und Patienten ist auch bekannt, dass Grapefruitsaft oder Johanniskraut-Präparate häufig Wechselwirkungen mit Medikamenten auslösen und darum bei gleichzeitigem Konsum Vorsicht geboten ist. Wichtig ist auch zu wissen, dass entzündungshemmende Schmerzmittel die Wirkung von Blutverdünnern verstärken und damit unerwartete Blutungen auslösen können.
Genauso bedenklich wie die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Präparaten sei die Kombination von Nebenwirkungen bei Polypharmazie, sagt der Spezialist für chronische Erkrankungen weiter. «Ein alltägliches Beispiel dazu: Ein älterer Mensch nimmt ein Antidepressivum, daneben noch mehrere Mittel zur Blutdrucksenkung, ein Schlafmittel und neuerdings wegen Arthrose-Schmerzen noch ein starkes Schmerzmittel. Alle diese Mittel können Schwindel auslösen. Zusammen «potenziert» sich das Risiko so stark, dass der Patient Schwindelattacken mit nachfolgenden Stürzen riskiert.»
Kreislaufprobleme, Verwirrtheit, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen oder Stoffwechselstörungen sind die häufigsten Folgen der Polypharmazie. Sie ziehen leider nicht selten schwerwiegende Ereignisse wie Stürze, Unterzuckerung, Blutungen oder Nierenversagen nach sich. Dann kommt es oft zur Spitaleinweisung, die vermeidbar wäre. Einzelne Studien beziffern die Häufigkeit von Hospitalisationen aufgrund von Polypharmazie auf etwa zehn Prozent aller Notfall-Spitaleinweisungen.
Um eine ungünstige oder gar gefährliche Wechselwirkung von Medikamenten zu erkennen, ist das Wissen über die häufigen Interaktionen wichtig. Es ist als Alarmzeichen zu werten, wenn in zeitlichem Zusammenhang mit dem Einsatz eines neuen Medikamentes neue Beschwerden auftreten. Stefan Neuner-Jehle: «Man muss daran denken, dass solche neuen Beschwerden durch die Medikation beziehungsweise durch Interaktionen bedingt sein könnten und nicht durch eine neue Erkrankung.» Die Achtsamkeit für Veränderungen liege auch in der Verantwortung der Patienten, der Angehörigen oder der Pflegenden. Ein allfälliger Verdacht sollte zum Gespräch mit der betreuenden Fachperson führen und Massnahmen nach sich ziehen.
Hilfreich ist ein regelmässig zu überprüfender Medikamentenplan, auf dem alle Präparate aufgeführt sind, die jemand einnimmt oder anwendet, samt Dosierung, Regelmässigkeit und Anwendungsdauer. Besonders Dauerrezepte sollten in bestimmten Abständen überprüft werden. Wer ein elektronisches Patientendossier besitzt, kann sämtliche Medikationen samt Kommentaren zur Wirksamkeit darin eintragen lassen. So ist für alle Fachpersonen schneller ersichtlich, was für welches chronische oder akute Leiden von anderen Spezialist/innen verschrieben wurde.
Ein Medikament, das bisher richtig war, muss es nicht unbedingt auch in Zukunft sein. Das Absetzen auf ärztliche Anweisung hin nennen Fachleute Deprescribing. Bei einer ablehnenden Haltung der Patientin oder des Patienten kann die Zusicherung helfen, dass das Medikament jederzeit wieder eingesetzt werden kann, sollte es ihr oder ihm ohne das Medikament schlechter gehen.
20 bis 30 Prozent aller Menschen über 70 Jahren konsumieren täglich mehr als vier oder fünf Arzneimittel. Warum viele Medikamente nicht immer viel Gesundheit bedeuten, erklärt Stefan Neuner-Jehle vom Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich.
Polypharmazie: Ursachen und Folgen
Polypharmazie (auch Poly- und Multimedikation) bezeichnet die Einnahme mehrerer Medikamente gleichzeitig. 2017 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Polypharmazie als den «gleichzeitigen und regelmässigen Gebrauch von vier oder mehr rezeptfreien, rezeptpflichtigen oder traditionellen Arzneimitteln» definiert. In der Regel bekommen Patientinnen und Patienten mehr Medikamente verschrieben, je älter sie werden. Grund dafür ist die oft vorliegende Co- oder Multimorbidität von chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Rheuma, usw. Geschätzt bis die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer über 65 Jahre schlucken täglich mehr als fünf Medikamente.
Leider ist gerade im fortgeschrittenen Alter die Einnahme verschiedener Medikamente mit grösseren Risiken verbunden oder von mehr Nebenwirkungen begleitet. Durch Alterungsprozesse der Organe, die für die Verstoffwechselung von Medikamenten verantwortlich sind, verändern sich die Aufnahme, die Verarbeitung und der Abbau von Medikamenten im menschlichen Körper. Das kann zu einer ungewollt hohen Konzentration von Substanzen im Körper führen. Ausserdem können ältere Menschen weniger gut Fehlfunktionen und Belastungen kompensieren, was auch für die negativen Auswirkungen von Medikamenten gilt. Sie sind also anfälliger auf Nebenwirkungen.
Zu den arzneimittelbezogenen Problemen zählen häufig unspezifische Beschwerden wie zum Beispiel Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Schwindel, Verwirrtheit. Sie können zu unerwünschten Ereignissen wie Stürzen oder Blutungen führen und vermeidbare Untersuchungen und Behandlungen, ungeplante Spitalaufnahmen und schlimmstenfalls Todesfälle verursachen. Dabei scheint eine lineare Beziehung zwischen der Anzahl der eingenommenen Medikamente und der Häufigkeit von arzneimittelbezogenen Problemen zu bestehen.
Für die Behandlung älterer und multimorbider Menschen zur Erreichung bestmöglicher Lebensqualität sollten daher nicht nur die krankheitsspezifische Evidenz, sondern auch die klinische Erfahrung und die individuellen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten wegweisend sein. Prinzipiell ist eine vertrauensvolle Kooperation zwischen Patientinnen und Patienten und ihren behandelnden Arztpersonen unabdingbar, um mögliche Probleme durch Multimedikation zu vermeiden.
«Die Balance zwischen Nutzens- und Schadenspotenzial eines Medikaments muss stimmen.»

Prof. Dr. med. Stefan NeunerJehle
Leiter Chronic Care
Institut für Hausarztmedizin
Universität Zürich
Wie können Patientinnen und Patienten aktiv dazu beitragen, dass sie nur solche Medikamente einnehmen, die sie unbedingt brauchen?
Das zentrale Element ist das regelmässige Überprüfen der Medikationsliste mit der kritischen Frage, ob die Balance zwischen Nutzens- und Schadenspotenzial jedes einzelnen Medikamentes stimmt. Überwiegt der potenzielle Schaden, oder passt der angezielte Nutzen nicht mehr zu den Zielen der Patientin, des Patienten, dann ist ein kontrolliertes Reduzieren oder Absetzen angesagt. Eine solche Überprüfung macht bei Menschen, die mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen, alle sechs bis zwölf Monate Sinn. Der Beitrag der Patienten besteht darin, einer solchen Überprüfung zuzustimmen – oder sie sogar zu wünschen.
Sind die Ziele nicht immer dieselben – Schmerzfreiheit, Stabilisierung, Risikoverminderung?
Gerade ältere Patientinnen und Patienten können sich überlegen, was für sie die Ziele der medikamentösen Behandlung sind, was sich also für sie «lohnt». Das ist sehr individuell, zum Beispiel geht es einem hochaltrigen Menschen nicht unbedingt darum, mit dem Medikament noch eine Verlängerung des Lebens hinzukriegen, sondern vielmehr um Symptomfreiheit und Lebensqualität. Da kann ein Schmerzmittel oder eine Physiotherapie sinnvoller sein als ein Krebsmedikament. Beim Überprüfen der Medikationsliste geht es also nicht um «Reduzieren um jeden Preis», sondern darum, die passende Medikation zu wählen.
Wie reagieren Patientinnen und Patienten darauf, wenn die Überprüfung der Medikationsliste ergibt, dass Medikamente abgesetzt werden sollten?
Es ist gar nicht so einfach, auf ein liebgewonnenes Medikament zu verzichten. Dafür muss man manchmal über seinen Schatten springen, denn Verzichten ist immer schwieriger als aktiv etwas zu tun. In diesem Fall, ein Medikament zu nehmen. Eine gute Ärztin, ein guter Arzt nimmt diese Bedenken wahr und bespricht sie einfühlsam mit der Patientin, dem Patienten.
Wer hat das letzte Wort, wenn es um die Anzahl Medikamente geht – der behandelnde Spezialarzt, die Hausärztin, der Apotheker?
Das letzte Wort hat keiner der Genannten, sondern das hat die Patientin oder der Patient! Wenn es um den fachlichen Rat geht, dann kommunizieren die verschiedenen Fachpersonen am besten miteinander und suchen einen Konsens auf Augenhöhe, ohne dass eine Disziplin dominiert. Alle diese Fachpersonen sind Expertinnen und Experten für medikamentöse Behandlungen, aber der wichtigste Experte für seine Gesundheit ist die Patientin oder der Patient selbst.
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