
Zwischen Freiheit und Überforderung
Die medizinischen Möglichkeiten zu immer noch weiteren Behandlungen zwingen zu Entscheidungen. Das neue Buch von Heinz Rüegger und Roland Kunz macht Mut, sich mit den Fragen rund um das eigene Sterben und den Tod auseinanderzusetzen.
Text: Usch Vollenwyder
Über Jahrhunderte war der Tod eine allgegenwärtige Schicksalsmacht. Ob er auf leisen Sohlen daherkam oder mit plötzlicher Gewalt hereinbrach – er wurde als gottgegeben akzeptiert und die Menschen hatten sich ihm zu fügen. Erst mit dem medizinischen Fortschritt konnte das Ende des Lebens auf- und vielfach weit hinausgeschoben werden. «An den Rand eines langen Lebens», schreiben der Theologe und Ethiker Heinz Rüegger und der Geriater und Palliativmediziner Roland Kunz in ihrem gemeinsamen Buch «Über selbstbestimmtes Sterben». Sie gehen darin Fragen rund um Sterben und Tod nach, die ein modernes Gesundheitssystem und eine hoch entwickelte Medizin stellen.
Aus medizinischer Sicht gebe es fast immer noch eine Möglichkeit, das Leben zu verlängern, schreiben die Autoren: «Und damit stellt sich eben in unzähligen Fällen die Frage, ob und wie lange gegen eine potenziell tödlich verlaufende Krankheit weiter angekämpft werden soll oder ob man darauf verzichten und dem Sterbeprozess seinen Lauf lassen will.» Neuste Untersuchungen zeigen, dass schweizweit in fast sechzig Prozent der Sterbefälle eine sogenannte Lebensende-Entscheidung – die Fachwelt nennt sie End-of-Life-Decision – vorausgeht: Lebenserhaltende Massnahmen werden nicht mehr begonnen oder nicht mehr fortgeführt. Die Entscheidung darüber obliegt nicht mehr medizinischen Fachpersonen, sondern den Betroffenen selber.
Der Tod als Herausforderung
Die Selbstbestimmung am Lebensende zeigt die grosse Bedeutung, die der persönlichen Freiheit und der Autonomie von Patientinnen und Patienten in unserer Gesellschaft zugemessen wird. Doch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod ist vielfach eine Zumutung – und oft eine Überforderung. Dazu braucht es Gespräche mit Fachleuten über Möglichkeiten und Grenzen kurativer und palliativer Behandlung, es braucht aber auch die offenen Gespräche mit Angehörigen und Freundinnen – und die innere Bereitschaft, sich überhaupt mit dem Thema zu befassen. «Ars moriendi» heisst die Kunst, sich auf die Auseinandersetzung mit dem eigenen SterbenMüssen einzulassen.
Auf das Sterben könne man sich vorbereiten, schreiben die Autoren, und führen ihre Leserinnen und Leser an Themen wie abschiedliches Leben, mehr Sein als Haben, Nachlassregelungen, Spiritualität, Versöhnung mit dem eigenen Leben oder die bewusste Konfrontation mit Sterben und Tod heran. Sie sind überzeugt, dass sich die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit lohnt: «Nicht nur, um am Ende des Lebens besser mit den sich stellenden medizinischen Entscheidungssituationen umgehen zu können, sondern um bereits mitten im Leben bewusster und intensiver zu leben. Das heisst, so zu leben, dass man lebenssatt wird und zu gegebener Zeit das Leben auch loslassen kann.» ❋
Buchtipp
Heinz Rüegger und Roland Kunz: Über selbstbestimmtes Sterben. Zwischen Freiheit, Verantwortung und Überforderung.
Rüffer & Rub Sachbuchverlag, Zürich 2020, 205 S., ca. CHF 28.–