Angst um den Vater
Rosa Grossrieder-Zorn ging gern in den Kindergarten. Vor kurzem kehrte die vierfache Grossmutter nach Küsnacht ZH zurück, wo sie ihre Kindheit und Familienzeit verbrachte.

Unsere Kindergärtnerin, Tante Juli, war eine sehr liebe Lehrerin, alle gingen gern zu ihr. Wir bastelten viel, sangen, zeichneten, spielten draussen im Wald oder am See und hörten Geschichten.
Damals trugen im Kindergarten noch alle eine Schürze. Auf dem Foto von 1938 bin ich die Dritte links von Tante Juli. Meine Freundinnen hiessen Marianna Cosandey und Elsbethli Seeger. Auch andere Gesichter kenne ich noch: den Gautschi, Fritzli Ehrbar, Willi Hagen, das Geiger Heidi … Später kamen wir in die erste Klasse zu Lehrer Hörnlimann. Mit ihm jagten wir morgens um vier im Küsnachter Tobel Maikäfer; wir schüttelten sie von den Bäumen und sammelten sie mit Tüchern ein.
Ab der vierten Klasse hatte ich es schwer: Der neue Lehrer stellte mich als Deutsche vor der ganzen Klasse bloss. Mein Vater war zwar in der Schweiz aufgewachsen, aber die Familie hatte zu wenig Geld, um auch die jüngeren Söhne einzubürgern. Meine Mutter, eine Toggenburgerin, verlor ihr Schweizer Bürgerrecht mit der Heirat. So lebten wir während des Krieges in ständiger Angst, der Vater würde zur Wehrmacht eingezogen. Nachts standen wir oft am Fenster und sahen die Flieger vorbeiziehen. Erst als die Kirchenglocken im Mai 1945 den Frieden verkündeten, atmeten wir auf.
Ich lernte Schneiderin und heiratete. Auch mein Sohn und meine Tochter wuchsen in Küsnacht auf, wo ich heute wieder wohne – seit einem Sturz nun im Pflegezentrum. Nach der Pensionierung verbrachten mein Mann und ich zwanzig wunderbare Jahre im Tessin. Wir sind immer viel gereist – zum Beispiel mit Zug und Rucksack bis nach Peking, weil ich mir zum 50. Geburtstag wünschte, einmal mit Stäbchen zu essen.
Aufgezeichnet von Annegret Honegger