Der 83-jährige Balletttänzer André Doutreval schaut auf ein Leben voller Höhepunkte und Strapazen zurück. Hat es sich gelohnt, alles für den Tanz zu opfern?
Text: Claudia Senn
Grosse Karrieren beginnen manchmal ganz beiläufig. Bei André Doutreval war zudem eine ordentliche Portion Zufall mit im Spiel. Der achtjährige Knirps begleitete seine Schwestern in die Ballettschule. Wenn er schon mal da sei, dann könne er auch gleich mitmachen, fand die Lehrerin. Nach der Stunde meldete sie das Bürschchen subito an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper an. So ein Naturtalent musste gefördert werden.
Der kleine André, der damals noch Adolf hiess – es versteht sich von selbst, dass man mit diesem Namen im Nachkriegs-Österreich kein Künstler werden konnte – wähnte sich im Paradies. So viele Mädchen! Und alle himmelten ihn an! «Bald hatte ich sogar ein Vorzugsmädchen.» Spitzbübisches Grinsen. Künstler werden Künstler, um Frauen zu beeindrucken. So einfach ist das im Grunde genommen. Als Tänzer hatte Doutreval zudem einen Trumpf in der Hand: Da viele männliche Kollegen dem eigenen Geschlecht zugetan waren, fischte er als Hetero in einem verschwenderisch grossen Teich.
André Doutreval, 83, Wiener Charme und äusserlich noch immer top in Schuss, hat sein Leben dem Tanz gewidmet. Er arbeitete in den Ballettkompanien der ganz Grossen: Ray Barra, John Neumeier, Kenneth MacMillan, Erich Walter. Nach dem Ende seiner Laufbahn lebte er erst in Bern, dann in Zürich. Höhepunkt seiner Karriere war der Auftritt mit dem sowjetischen Jahrhundert-Tänzer Rudolf Nurejew 1967 an der Berliner Oper. Aufgeführt wurde «Dornröschen». Nurejew gab natürlich den Prinzen. Der damals 25-jährige Doutreval tanzte gemeinsam mit einer jungen Ballerina die «Blauen Vögel», einen der schwierigsten Parts im klassischen Ballett. Mit unzähligen strapaziösen Hebungen soll dem Publikum vorgegaukelt werden, die Ballerina fliege tatsächlich wie ein Vogel durch die Lüfte.
«Nurejew war unfreundlich, herrisch und arrogant zu uns Kollegen.»
Die Kostüme und die mit Blattgold verzierten Kulissen liess sich die Oper vier Millionen D-Mark kosten – eine Orgie des Prunks. Nurejew sei ein fantastischer Tänzer gewesen, sagt Doutreval ohne jeden Anflug von Neid, ein Ausnahmetalent mit gewaltiger Sprungkraft und faszinierender Ausstrahlung. Aber charakterlich? «Unfreundlich, herrisch und arrogant zu uns Kollegen.» So schnell kann der Nimbus eines Superstars verpuffen, wenn man ihn erst mal von Nahem kennenlernt.
Über sein Leben als Tänzer hat André Doutreval ein Buch geschrieben. Es geht darin nicht nur um den Glamour einer Kunst, die auf der Bühne stets so federleicht wie ein Windhauch wirkt, tatsächlich aber auf Schwerstarbeit beruht. Sondern auch um ihre Schattenseiten. Lange Zeit verdiente Doutreval trotz seines Erfolgs so wenig, dass er die neue Wildlederjacke in Raten abstottern musste. Dazu kam die permanente Überlastung des Körpers.
«Ich habe immer mit Schmerzen gelebt», sagt Doutreval. Er rechnet vor, dass er in einer einzigen Trainingssession bis zu zwei Tonnen hob, weil jede Drehung, jede Hebung Dutzende, ja, Hunderte Male geübt werden musste, bis sie wirklich sass. Für Bauarbeiter ist eine solche Belastung von Gesetzes wegen verboten, von Tänzern wird sie erwartet. Der Raubbau hinterlässt Spuren, nicht nur bei ihm, bei allen Berufskolleginnen und -kollegen.
Mit 35, allerhöchstens 40 Jahren, sind die Menisken demoliert, die Bandscheiben ein Desaster, die Gelenke arthrotisch, die Achillessehnen von den dauernden Entzündungen angegriffen. Bei Tänzerinnen kommt meist ein schlimmer Hallux hinzu, vom unbarmherzigen Zangengriff der Spitzenschuhe. Wer verletzt ist, beisst auf die Zähne und tanzt weiter, weil es keine Zweitbesetzung gibt. André Doutreval erzählt, wie er einst in Wuppertal mit schwerer Bronchitis und Fieber eine Uraufführung durchstehen musste. In jeder noch so kurzen Pause zwischen seinen Einsätzen beatmete ihn der Bühnenbildner hinter den Kulissen mit einem Sauerstoffgerät, damit Doutreval wieder für ein paar Minuten durchhalten konnte.
«Ich habe für die Bühne gelebt.»
Haben sich die Torturen gelohnt? Doutreval zögert eine Millisekunde und sagt dann beherzt: «Ja, hundertprozentig.» Er habe gelebt für die Bühne. Gut beraten sei man allerdings, wenn man sich rechtzeitig nach einem Zweitberuf umschaue. Doutreval und seine Schweizer Frau Silvia Haemmig, auch sie eine Ballerina, choreografierten avantgardistische Stücke, die an der Biennale Venedig und der Documenta in Kassel gezeigt wurden und Themen wie die Digitalisierung oder den Klimawandel vorwegnahmen. Mit Silvia gründete er zudem eine eigene Ballettschule in Kassel.
56 Jahre lang lebte er an der Seite seiner Lebenskomplizin. «Sie war eine wunderbare Frau», sagt Doutreval mit Tränen in den Augen. Er nannte sie Wümmchen. Sie nannte ihn Pümpchen. Zu ihrer beider Leidwesen verkündete der gemeinsame Sohn mit 17 Jahren am Abendbrottisch, dass er Ökonom werden wolle. Ökonom, ausgerechnet! Doch diese ganz und gar abwegige Berufswahl wurde von den schockierten Künstlereltern schliesslich doch geschluckt. Ein einziges Mal nur war Doutreval seiner Frau untreu. Das passierte, als die beiden Tanzlehrer 475 Eleven gleichzeitig ausbildeten und sich zu Hause nur noch die Klinke in die Hand gaben. Ein nächtliches Gespräch am Kamin rückte alles wieder zurecht.
Als Silvia im November 2017 an Krebs starb, war Doutreval ein Jahr lang am Boden zerstört. Doch Wümmchen hatte ihrem Pümpchen auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, nach ihrem Tod auf keinen Fall allein zu bleiben. Doutreval hat es gehalten. Wenn das Leben lange genug dauert, ist die Liebe eben ein Tanz mit mehreren Partnerinnen.
André Doutreval: Ein Leben für den Tanz – Die Geschichte einer Leidenschaft. Verlag Rüffer & Rub, Zürich 2020, 272 Seiten, ca. CHF 38.90
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