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Philosoph Wilhelm Schmid: «Irgendeine Gemeinsamkeit findet man immer»

Wilhelm Schmid hat die Lebenskunst zu seinem grossen Thema gemacht. Hat der Philosoph eine Idee, wie wir mit der trostlosen Weltlage klarkommen und den bröckelnden Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken können?

Interview: Claudia Senn, Fotos: Meike Kenn

Wilhelm Schmid, im Moment haben viele Leute das Gefühl, dass die Welt den Bach runtergeht. Sie auch?
Ja, aber das kommt in Abständen immer mal wieder vor. Auch 1933 gab es jeden Tag verheerende Neuigkeiten, ähnlich wie heute. Doch die Welt hat das damals überlebt, und sie wird es auch heute überleben. Ich bin also nicht völlig am Boden zerstört. Aber ich verstehe alle, die zutiefst verunsichert sind. Denn worauf kann man sich heute noch verlassen? 

Möglicherweise hat der Dritte Weltkrieg bereits begonnen. Auch in der Klimakrise stecken wir schon mittendrin. Was können wir tun, um nicht von Angst und Hoffnungslosigkeit überwältigt zu werden?
Blenden Sie diese Gefühle ab und zu aus. Gehen Sie einen Kaffee trinken. Führen Sie gute Gespräche mit vertrauten Menschen. Ist das Weltflucht? Klar. Doch gelegentliche Weltflucht ist wichtig, wenn man gesund bleiben möchte. Achten Sie aber auf das richtige Mass. Lassen Sie soviel Realität in Ihre Welt hinein, wie Sie ertragen können. Manche möchten umflutet davon sein, so wie ich selbst. Andere sind eher wie Austern, die bestenfalls einen Spaltbreit aufmachen können.

Viele sagen: Ich schaue mir die Nachrichten nicht mehr an. Das zieht mich bloss runter. Können Sie das nachvollziehen?
Sicher. Doch wenn wir so reagieren, geht die Welt vor die Hunde, ohne dass wir es mitkriegen. Das kann auch nicht die Lösung sein. Wir müssen jetzt wichtige Entscheidungen fällen, für die wir gut informiert sein sollten. Das betrifft leider auch die Frage der Aufrüstung. Aggressoren lassen sich nicht von Friedfertigkeit abschrecken, im Gegenteil. Wenn wir ihnen bloss das Peace-Zeichen entgegenstrecken, überrennen sie uns einfach.

1989 haben wir in der Schweiz darüber abgestimmt, ob die Armee abgeschafft werden soll. War das naiv?
Aus meiner Sicht schon. Ohne Armee auskommen zu wollen, ist eine Illusion. Wir Menschen werden niemals zu hundert Prozent friedfertig sein, denn wir stammen genetisch von zwei verschiedenen Affenarten ab. Einerseits von den Bonobos, deren Verhalten man mit «make love, not war» umschreiben könnte. Andererseits sind wir auch mit den Schimpansen verwandt, die öfter mal ohne Angabe von Gründen ihre Nachbarn überfallen und alle massakrieren. Das steckt beides in uns drin. 

Was können wir tun, um den inneren Bonobo zu stärken?
Guter Sex macht schöne Menschen.

Philosoph Wilhelm Schmid
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«Allein können wir Trump oder Putin zu wenig entgegensetzen.»

Sie plädieren im Ernst für mehr Sex als Mittel gegen die Misere? 
Das wäre schon mal ein guter Anfang. Aber natürlich müssen wir auch als Europäerinnen und Europäer enger zusammenstehen. Nur wenn die europäischen Länder, inklusive der Schweiz, zusammenhalten, sind wir stark genug für das, was auf uns zukommt. Schaffen wir das nicht, werden wir einzeln zerlegt. Allein können wir Trump oder Putin zu wenig entgegensetzen. 

Die Pandemie entzweite Familien, Freundschaften und Bürogemeinschaften. Auch Trump und Putin  bringen Menschen auseinander, die sich vorher eigentlich ganz gut verstanden hatten. Wie geht man damit um, wenn eine Freundin eine fundamental andere Meinung vertritt als man selbst? 
Da müssen Sie sich entscheiden, was wichtiger ist: dass Sie die gleiche Meinung haben, oder dass Sie Freundinnen sind. Für mich ist sonnenklar: Eine Freundschaft, die schon über Jahre oder sogar Jahrzehnte besteht, ist doch viel wichtiger als eine abweichende Meinung, die möglicherweise bald niemanden mehr interessiert.

Das sagen Sie so leicht. Doch was, wenn man das Gefühl hat, nicht mehr dieselben Grundwerte zu vertreten? Während der Pandemie ist das vielen passiert.
Freundschaft ist doch auch ein Wert. Ich bin während der Pandemie mit einem meiner engsten Freunde frontal aneinandergeraten, weil er behauptete, das Corona-Virus existiere nicht. Das war für mich völlig unverständlich, weil er Wissenschaftler ist, genau wie ich. 

Sind Sie heute noch befreundet?
Ja, weil wir beschlossen haben, dass unsere Freundschaft diese Unterschiede aushält. Allerdings sprechen wir bis heute nicht über das Thema Corona. Wir klammern es bewusst aus, um unsere Freundschaft nicht zu strapazieren. Wir haben ja genügend andere Themen: Wie läufts in der Beziehung? Kann ich dir in dieser oder jener Lebenssituation helfen? Sorgen gibt es immer. Und Sorgen zu teilen – das ist Freundschaft. 

Sie würden also die Freundschaft über alles stellen?
Absolut, ja. Wie soll der Zusammenhalt in der Gesellschaft klappen, wenn wir keine abweichenden Meinungen aushalten?

«Nie im Leben haben mir Menschen so hasserfüllt entgegengeblickt wie dort.»

Sie sind einmal an einem Podium der AfD aufgetreten, einer in Teilen rechtsextremen Partei, die in Deutschland von einem Fünftel der Menschen gewählt worden ist. Warum haben Sie das gemacht?
Soll ich etwa 20 Prozent der Menschen ausschliessen? Das geht doch nicht. Wir haben alle das Recht, in dieser Gesellschaft zu leben. Allerdings hatte ich mir nicht ausgesucht, vor der AfD aufzutreten. Ich bin da reingerutscht. Eine völlig unverdächtige Stiftung, die ich nicht in Zusammenhang mit der Partei brachte, hatte mich eingeladen. Erst als ich zu sprechen begann, bemerkte ich, dass mein Publikum vieles komplett anders sieht als ich. Dann wurde es bald richtig übel.

Philosoph Wilhelm Schmid
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Was ist passiert?
Nie im Leben haben mir Menschen so hasserfüllt entgegengeblickt wie dort. Aber ich bin nicht weggelaufen. Möglicherweise hat mir das allein einen gewissen Respekt eingebracht. 

Würden Sie es wieder tun?
Ja, ich kann doch nicht behaupten, wir sollten den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken und gleichzeitig mit bestimmten Leuten das Gespräch verweigern. Das geht nicht. Irgendwelche Gemeinsamkeiten findet man letzten Endes immer, auch wenn die Unterschiede gross sind. Sogar mit AfD-Mitgliedern.

Welche Gemeinsamkeiten waren das denn?
Beim Thema Wokeness gab es eine gewisse Übereinstimmung. Allerdings nur, bis ich gesagt habe, dass ich das Grundanliegen der Bewegung gut finde. Der Kampf gegen Diskriminierung ist absolut richtig und unterstützenswert. Ich bin bloss dagegen, dass wir uns wechselseitig überwachen und jedes Wort auf die Goldwaage legen. Das ist keine Basis für vertraute Gespräche. Wenn ich mit jemandem zusammensitze, der Worte benutzt, die ich nicht gut finde, muss ich ihm das nicht gleich entgegenschleudern. 

Ist nicht längst ein Backlash im Gange? Die Trump-Administration und auch andere rechtskonservative Regierungen stürzen sich doch auf die Wokeness-Bewegung und stampfen gerade deren Errungenschaften ein.
Auf eine masslose Übertreibung folgt eine masslose Gegenreaktion, das war klar. Wir Menschen haben es noch nie hingekriegt, massvoll durch die Geschichte zu gehen. Trotzdem glaube ich, dass die Wokeness-Bewegung viel bewirken wird, wenn sie sich auf das Wesentliche konzentriert, nämlich auf den Kampf gegen die Diskriminierung. 

«In der Schweiz wird der einzelne Mensch ernster genommen als in Deutschland.»

Sie kennen sich auch in der Schweiz gut aus. Ist der Zusammenhalt hierzulande besser als in Deutschland?
Ich finde, ja. In der Schweiz wird der einzelne Mensch ernster genommen.

Woran machen Sie das fest?
Die Menschen werden in der Schweiz schnell mit Namen angesprochen. Es gibt ein Interesse daran, wie jemand heisst. Nun werden Sie sagen, das ist doch selbstverständlich. Nein, kann ich Ihnen versichern, in Deutschland ist das nicht Usus. Jemanden mit Namen anzusprechen, sich dafür zu interessieren, wer er ist, welche Vorlieben oder Abneigungen er hat, ist in meinen Augen aber die Basis für eine funktionierende Gesellschaft. Zusammenhalt beginnt im Kleinen: mit Geselligkeit, mit Interesse an anderen Menschen, an denen, die ich kenne, aber auch an denen, die ich nicht kenne. 

Von 1998 bis 2007 waren Sie als philosophischer Seelsorger am Spital Affoltern am Albis tätig. Kann die Philosophie anders helfen als die Psychologie?
Psychologen oder Therapeutinnen sind darauf geeicht, Erkrankungen zu erkennen, verborgene Traumata aufzuspüren, der Kindheit auf den Grund zu gehen. Die meisten Menschen im Spital haben aber gar keine psychischen Krankheiten. Sie wollen auch nicht mit dem Röntgenblick des Therapeuten durchleuchtet werden, sondern einfach nur aus ihrem Leben erzählen. Das haben sie bei mir getan, und nach einer Stunde zogen sie beglückt von dannen. Dabei habe ich gar nichts gemacht, bloss zugehört. Alle Menschen fühlen sich ermuntert durch ein gutes Gespräch.

Warum haben Sie mit dieser Tätigkeit aufgehört?
Weil ich nach zwei Wochen jeweils total erschöpft war. Der Bedarf war riesig, und ich wollte niemanden abweisen. Ich bin auch quer durchs Haus gegangen, um mal hier und mal dort mitzuarbeiten, damit die Menschen mich kennenlernen, und ich deren Tätigkeit kennenlerne. Das hat das Verständnis untereinander sehr verbessert. Ein Krankenhaus ist ja ein Abbild der Gesellschaft, in der alle gerne gesehen werden möchten, aber kaum jemand bei den andern hinschaut. Die Internisten halten die Chirurgen für Knochensäger, weil ihre Behandlungen invasiv sind. Die Chirurgen halten die Internisten für Weicheier, weil es bei ihnen nur selten um Leben und Tod geht. Beide schimpfen über das angeblich viel zu langsame Labor, haben jedoch keine Ahnung, unter welcher Hochanspannung die Leute dort arbeiten. 

Philosoph Wilhelm Schmid
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Liegt im Interesse für die anderen der Schlüssel für mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft?
Ja, wer sich für die anderen interessiert, kann mit einem viel besseren Verständnis an sie herantreten. Wir schaffen es natürlich nicht, zu allen Brücken zu bauen. Doch wenn man sich ab und zu einem anderen Menschen annähert, wird das Leben reicher, ich verspreche es.

Sie haben vor drei Jahren Ihre Frau verloren, den Menschen, mit dem Sie den grössten Zusammenhalt spürten. Lässt sich diese Verbindung ersetzen?
Nein. Ich habe wunderbare Kinder und grossartige Freunde, doch mit keinem von ihnen habe ich das Leben so geteilt wie mit meiner Frau. Als absehbar war, dass sie bald sterben würde, habe ich zu ihr gesagt: Wir bleiben zusammen. Und sie sagte: egal, in welchem Aggregatszustand. Jetzt ist sie in einem anderen Aggregatszustand, und wir sind tatsächlich noch immer zusammen. Ich spüre ihre Energie, mal ganz nah und stark, mal etwas weiter weg und schwächer. Manchmal diskutieren wir sogar Probleme miteinander, und wir finden, wie immer, eine Lösung. Das tröstet mich ungemein. Denn mit meiner Frau zusammen zu sein, ist das Schönste, was mir jemals passiert ist.

Wo wir schon mal einen Philosophen fragen können: Worin besteht für Sie der Sinn des Lebens?
In der Liebe. Punkt. Es gibt aber nicht nur die eine, die grosse Liebe. Es gibt sehr viele Lieben: die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, die Liebe der Kinder zu ihren Eltern, die Liebe zu Tieren, zur Natur, zum Beruf, falls er eine Berufung ist, zur Heimat, zum Reisen, zum guten Essen – und das ist erst ein kleiner Auszug. Alle diese Lieben zeichnet aus, dass es um eine starke Beziehung, fern von Gleichgültigkeit, geht. Fragen Sie sich etwa nach dem Sinn des Lebens, wenn Sie gerade frisch verliebt sind oder etwas besonders Leckeres essen? Eben. In diesen Momenten haben Sie den Sinn gefunden.

Philosoph für alle

Der Bauernsohn Wilhelm Schmid (72) ist kein Philosoph, der einsam im Elfenbeinturm vor sich hindenkt. Seine populärphilosophischen Bücher zu Themen wie Glück, Gelassenheit, Liebe oder dem Umgang mit dem Tod finden Millionen Leserinnen und Leser und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Schmids Schwerpunkt ist die Philosophie der Lebenskunst. Er war ausserordentlicher Professor in Erfurt und Gastdozent in Riga und Tiflis. Heute lebt er in Berlin, ist verwitwet und hat vier Kinder.

Buchtipp

Buch: Die Suche nach Zusammenhalt. Von Wilhelm SchmidFür sein neues Buch machte sich Wilhelm Schmid auf eine Reise quer durch die Gesellschaft. Er sprach mit Menschen aller Altersklassen und sozialen Schichten, um herauszufinden, worin der Kitt besteht, der die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Angefangen hatte er mit dem Projekt noch vor der Pandemie, doch inzwischen hat das Thema durch die aktuellen weltpolitischen Ereignisse eine noch grössere Dringlichkeit erfahren.

Wilhelm Schmid: Die Suche nach Zusammenhalt. Suhrkamp-Verlag 2025, 469 Seiten, ca. Fr. 39. 90.

Beitrag vom 12.06.2025