Was ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier? Je genauer Wissenschaftler hinschauen, desto mehr Gemeinsamkeiten finden sie. Von raffinierten Raben bis zu sprechenden Schimpansen: ein Streifzug durch die Welt der Verhaltensforschung.
Text: Uta Maria Jürgens
Ein Schatten stösst von einem Hausdach herab, zischt über meinen Kopf, dreht eine Pirouette – meine Krähenfreundin landet vor mir. Sie kennt meine Spazierzeiten und hat gelernt zu warten, bis ich meinen Pflegehund zu den Besitzern zurückgebracht habe. Dann erbittet sie ihren Anteil an Leckerli. Ihr Partner folgt. Er ist nicht so mutig wie sie, dafür ein Macho: Er schnappt sich die grössten Stücke.
Wir teilen unser Leben mit Tieren: Hunden, Katzen, Kanarienvögeln, die für uns vollwertige Beziehungspartner sind. Mit Spinnen, Igeln, Schnirkelschnecken, die wie Nachbarinnen Gebäude und Gärten mit uns bewohnen. Mit Wölfen, Auerhähnen und Muränen, denen wir mit respektvoller Distanz begegnen. Und mit Mastferkeln, Zuchtbarschen und Legehennen, deren entseelte Körper vielen als Nahrungsquelle gelten.
Je näher uns Tiere kommen, umso eher sehen wir, wie ähnlich sie uns sind: Sie führen etwas im Schilde, freuen oder ärgern sich, je nachdem, wie der Plan gelingt. Sie suchen Nähe, Wärme, Sicherheit. Sie haben ihren eigenen Kopf und einzigartige Charaktere. Was wir wahrnehmen, bestätigt auch die Wissenschaft in ausgeklügelten Experimenten: Tiere sind schlaue, gefühlvolle und tugendhafte Persönlichkeiten.
Von wegen Spatzenhirn!
Intelligentes Verhalten teilen wir nicht nur mit anderen Säugetieren, sondern auch mit Lebewesen, deren Gehirn ganz anders aufgebaut ist, wie bei meinen Krähen – und sogar mit solchen, die gar kein richtiges Hirn haben, wie Kraken oder Spinnen: Rabenvögel sorgen aufgrund vergangener Erfahrungen für die Zukunft vor.
Wenn sie Futterverstecke anlegen, merken sie sich, von wem sie dabei beobachtet werden, um bei nächster Gelegenheit ein besseres Versteck zu suchen – spionieren ihrerseits aber anderen nach, um deren Vorratskammern zu räubern. Sie benutzen Werkzeuge und stellen sie sogar gezielt selbst her, biegen sich zum Beispiel Draht zu einem Haken, um einen Leckerbissen zu angeln.
Schon der griechische Dichter Äsop beschrieb einen Raben, der Steine in eine Amphore warf, um deren Wasserspiegel anzuheben und trinken zu können – moderne Forschungsergebnisse bestätigen, dass diese Vögel tatsächlich zu dieser Gedankenakrobatik in der Lage sind.
Auch Springspinnen gehen bei der Futtersuche mit Bedacht vor: Sie halten sich beim Anpirschen die Position eines Beutetiers gegenwärtig, selbst wenn sie es aus dem Blick verlieren. Und ähnlich wie Menschenaffen, Elefanten und Delfine sind Buntbarsche zu Selbsterkenntnis in der Lage. Sie verstehen: Der da im Spiegel – das bin ja ich!
Wohin die Forschung schaut, entdeckt sie, wie ähnlich die Psyche unterschiedlichster Wesen funktioniert: Schlafen und Spielen beispielsweise sind im ganzen Tierreich verbreitet. Kraken und Spinnen haben dieselben Schlafphasen wie Menschen. Untersuchungen legen nahe, dass sie dabei auch träumen. Spiel scheint es von der Kaulquappe, die Luftblasen reitet, über den Komodowaran, der Freude am Tauziehen mit dem Zoowärter findet, bis zum Krokodil mit einem Faible fürs Basketballspiel, in allen Tiergruppen zu geben.
Annehmen dürfen wir ebenfalls, dass urtümliche Gefühle bei allen Lebewesen vorkommen: Schmerz und Trauer, Mutterliebe und Freundschaft zum Beispiel. Während der Naturforscher René Descartes im 17. Jahrhundert noch Tiere bei lebendigem Leibe sezierte und ihre Schreie als Quietschen einer Maschine abtat, weiss heute jedes Kind, dass man Tieren nicht wehtun darf. Selbst bei Fischen, die fälschlicherweise als unempfindsam galten, ist inzwischen zweifelsfrei nachgewiesen, dass sie Schmerzen fühlen.
Tiere empfinden auch seelisches Leid. Es gibt zahllose Geschichten von Milchkühen, die kilometerweit Anhängern hinterherlaufen, in denen Bauern ihre Kälber zum Schlachter abtransportieren. Rabenvögel und Elefanten zeigen beim Tod eines Schwarmgenossen oder Herdenmitglieds depressive Tendenzen und wenden sich dem toten Angehörigen und einander in einer Art Trauerritual zu.
Bären, Fische, Elefanten und Papageien werden durch grausame Erlebnisse traumatisiert – und können wie Menschen – durch liebevolle Begleitung in sicheren Umständen davon genesen. Fische kooperieren, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen und versöhnen sich nach einem Streit. Ratten verzichten auf Leckerbissen, wenn sie dafür einem Freund einen Stromschlag ersparen können. Wildschweine nehmen den Mut zusammen, um einen Kollegen aus einem Käfig zu befreien.
Tugend im Tierreich
Offenbar teilen wir mit Tieren eine entscheidende Facette von Menschlichkeit: Moral. Alle Tiere, die in Gruppen leben, bilden eine Ethik des Miteinanders aus. Teils mag dieses Verhalten angelegt sein, etwa bei sozial lebenden Spinnen in Südafrika, die sich gemeinschaftlich um den Nachwuchs ihrer Schwestern kümmern, bis hin dazu, sich von ihren Nichten auffressen zu lassen.
Zumeist beruht die tierliche Moral aber auf ausgefeiltem Lernen: Wolfswelpen etwa werden die jeweiligen Rudelregeln von ihren Familienmitgliedern beigebracht. Und auch ihre Verwandten, die Hunde, entwickeln mit ihresgleichen und auch mit ihren Menschenfreunden fein abgestimmte Regelsysteme. Auf Gesetzesverstösse und mangelnde Fairness reagieren sie empfindlich. So verweigern Hunde – ebenso wie Raben – in Experimenten die Mitarbeit, wenn sie sehen, dass ein Artgenosse für dasselbe Kunststück eine schickere Belohnung bekommt.
Ein grosses Wir
Die moderne Forschung schlüsselt also auf, was wir seit Darwin wissen: Es gibt keine definitive Grenze zwischen Mensch und Tier, sondern eine Kontinuität. Das Leben spiegelt sich im Geist jedes Wesens auf einzig-, aber gleichartige Weise. Was wäre, wenn wir das nicht nur zur Kenntnis, sondern uns wirklich zu Herzen nähmen? Wir könnten Tiere nicht mehr so einfach unserem Nutzen unterwerfen, nur weil sie einer anderen Art angehören.
In jeder zerdrückten Spinne erlischt eine winzige Welt. Mit jedem Leckerli, das ich meiner Krähe hinwerfe, geht eine kleine Sonne auf. Wir würden mit dem Ethiker Albert Schweitzer anerkennen: Wir sind «Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.» Eine Erkenntnis, die demütig macht. Zugleich eine, die uns in ein grosses Ganzes einbettet.
Wortwörtlich einzigartig
Die Sprache gilt als einzigartig menschlich. Zwar sprechen Tiere auf ihre Weise miteinander – und auch mit uns: Wölfe und Hunde kommunizieren mittels minutiös abgestimmter Mimik, Raben mit nuancierten Rufen und Delfine mit Sprüngen und Klicklauten, die sogar eine Art Grammatik aufweisen. Die Schimpansin Washoe erlernte ebenso wie die Gorilladame Koko menschliche Gebärdensprache und gab dieses Wissen sogar an ihren Sohn weiter. Der Bonobo-Affe Kanzi kann gesprochene Worte in grafische Symbole übersetzen und entwickelte eigene Ideen im Umgang damit.
Trotzdem gibt es einen wichtigen Unterschied: Die menschliche Sprachfähigkeit zeichnet sich durch einen schier unendlichen Reichtum an Wortschöpfungen aus. Darin spiegelt sich unsere gedankliche Flexibilität, die uns zu Kunst und Wissenschaft befähigt.
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