«Berühmt sein ist auch eine Bürde»
Deshalb tut Stefan Kurt einfach so, als wäre er ein Nobody. Der Schweizer Schauspieler über sein Coming-out als schwuler Mann, einsame Anfänge an deutschen Theatern und seine Jugendclique, der er sich bis heute verbunden fühlt.
Interview: Claudia Senn; Fotos: Christian Senti
Dieses Prokuristen-Gesicht ist sein grösstes Kapital – und gleichzeitig seine beste Tarnung. Stefan Kurt sieht auf eine so unspektakuläre Art gut aus, dass man ihn auf der Strasse nicht erkennt, obwohl man ihn gerade in einem Film spielen sah. Inkognito zu sein, ist ganz in seinem Sinne. Doch dazu später mehr.
Der inzwischen 63-Jährige ist einer der erfolgreichsten Schweizer Schauspieler überhaupt. Und einer der besten. In Deutschland gilt er seit Jahrzehnten als Theaterstar. Vor der Kamera wurde er wegen seines Jedermann-Gesichts lange bloss als Anwalt, Buchhalter oder Spiesser mit Abgründen besetzt, «weil die Casting-Agenten leider wenig Fantasie haben». Hätten sie sich nur mal für sein komisches Talent interessiert! Denn Stefan Kurt war auch hinreissend als Dragqueen «Zaza» in «La Cage aux Folles» und als mit putzigen Silikonbäckchen ausgepolsterter Papa Moll. Was viele noch nicht wissen: Er malt auch Bilder, die sich inzwischen für bis zu 3000 Franken verkaufen, und er arrangiert im Tonstudio Geräuschcollagen als eine Art Kino fürs Ohr.
Viele Jahre lebte Stefan Kurt in Berlin. Doch dann kam die Pandemie, und er zog mit seinem langjährigen Lebenspartner probeweise zu Freunden in die Schweiz. «Schliesslich schauten wir beide uns tief in die Augen und fragten uns: Wo wollen wir alt werden?» So kommt es, dass Kurt nun zurück in der alten Heimat ist.
Stefan Kurt, mittlerweile gehen Sie völlig offen damit um, dass Sie schwul sind. Das war nicht immer so. Gefährdet man als offen homosexueller Schauspieler seine Karriere?
Im Theater habe ich nie ein Geheimnis daraus gemacht. Dort wussten alle Bescheid. Doch beim Film ist das heikler. Es gibt die Angst, dass man für gewisse Rollen nicht in Frage kommt, wenn man nicht heterosexuell ist.
Haben Sie jemals eine Rolle nicht bekommen, weil Sie schwul sind?
Nicht wissentlich. Aber das wird einem ja nicht immer gesagt.
Vor zwei Jahren haben Sie bei #ActOut mitgemacht, einer Aktion des Magazins der Süddeutschen Zeitung, für die sich 185 queere Schauspielerinnen und Schauspieler geoutet haben. Welche Reaktionen haben Sie damit ausgelöst?
Ich bekam viel Zuspruch und Unterstützung. Doch es gab auch die anderen, die fanden, wir wollten uns bloss wichtig machen, um in die Schlagzeilen zu kommen. Ohne die vielen Mitstreiterinnen und Mitstreiter hätte ich mich niemals öffentlich geoutet, aus Angst, dass das eitel rüberkommt. Warum soll ich anderen meine sexuelle Orientierung auf die Nase binden? Andererseits möchte man sich schon so zeigen, wie man ist.
Hat die Aktion etwas bewirkt?
Ich hoffe es. Mir selbst war gar nicht klar, wie viele wir sind. Und ich habe begriffen, wie schwer es für junge Schauspielerinnen und Schauspieler sein muss, sich andauernd zu verstellen, um an die guten Rollen zu kommen. Bei der Aktion machte auch ein ganz junger Schauspieler mit, den ich kannte. Er war erst 19 oder 20 Jahre alt, und ich wusste nicht einmal, dass er verzaubert – pardon, schwul – ist. Wie er sich da schon ganz zu Beginn seiner Karriere hinstellte und sagte: So bin ich, take it or leave it – das fand ich stark. Was für eine tolle Generation! Ich selbst hätte mich das nie getraut.
Wann wurde Ihnen klar, dass Sie schwul sind?
Mit 14 oder 15 Jahren. Doch mein Outing hatte ich erst mit 19, als ich zur Aushebung fürs Militär musste. Für mich war klar, dass ich auf keinen Fall in die RS gehe, und ich wusste, dass man als Schwuler vom Dienst befreit wird. Der Korporal gab sich jedoch betont tolerant. Er habe überhaupt nichts gegen Homosexuelle, meinte er, und ich dachte: Oh Shit, am Ende nehmen die dich doch! Also übertrieb ich ein bisschen, um ihm Angst einzujagen, und behauptete, ich brauche unbedingt mehrmals pro Woche sexuelle Kontakte. Zack – bekam ich den Stempel NM255 in mein Dienstbüchlein.
Was bedeutete dieser Code?
Er stand für «sexuell abnorm». So betrachtete man Homosexualität damals, als Abnormität. Die WOZ hat in den 80er-Jahren einmal die Bedeutung all dieser Codes öffentlich gemacht, von «Bettnässer» über «psychisch krank» bis «sexuell abnorm». Von den Jungs in meiner Clique wollte keiner ins Militär. Der eine hat auf psychisch gemacht, der andere eine Ente mitgenommen …
Sie meinen: eine lebende Ente?
Ganz recht, er nannte sie Frau Eggima und behauptete, er könne sie auf keinen Fall allein lassen. Sein Plan ist aufgegangen. Enten sind in der Kaserne offenbar nicht erwünscht.
Ihre Clique stelle ich mir lustig vor.
Sie war meine Heimat, mein Zuhause. Wir sind bis heute befreundet. Als Kinder spielten wir oft auf Baustellen, machten Feuer. Die orangen Kunststoff-Kabel brannten wie Napalm-Bomben und stanken so schön. Eigentlich logisch, dass ich mich später in einen dieser Jungs verliebte.
Glücklich oder unglücklich?
Unglücklich natürlich, sie waren ja alle hetero. Als ich mich endlich dazu aufraffte, ihnen mein Schwulsein zu beichten, meinten sie bloss: Ach, Stüfi, wir wissen doch eh längst Bescheid. Und ich hatte mir solche Sorgen gemacht, wie sie es aufnehmen.
«Mein Schwulsein war kein Drama.»
Haben es Ihre Eltern auch so locker aufgenommen?
Ja. Ich informierte sie vor der Aushebung, denn in meinen Albträumen stellte ich mir vor, wie der Militärpsychologe meine ahnungslose Mutter anrufen würde und sie dann in grösster Verzweiflung am Telefon schluchzt: Mein Sohn – schwul! In Wirklichkeit war es für sie überhaupt kein Drama.
Damals gehörte es in linken Kreisen zum guten Ton, nicht beim Militär mitzumachen.
Ja, wir waren konsumkritisch, kapitalismuskritisch, armeekritisch. Wir sind in einer sorglosen Zeit aufgewachsen und mussten nicht für unsere Freiheit kämpfen. Und jetzt schauen Sie sich an, wie sich die Welt durch den Ukraine-Krieg verändert hat. Was, wenn bei uns so ein Krieg losbrechen würde? Zögen wir mit demselben Mut in die Schlacht wie die Ukrainer? Könnten wir heute noch mit gutem Gewissen sagen, dass wir mit der Armee nichts zu tun haben wollen? Plötzlich sieht man das mit anderen Augen.
Nach der Schauspielschule hatten Sie Engagements am Schauspielhaus Bochum und am Thalia-Theater in Hamburg. Wie schwer waren diese Anfänge als Neuling, ganz allein in der Fremde?
In Bochum bin ich gemeinsam mit meiner besten Freundin Crescentia Dünsser engagiert worden. Deshalb hielt sich das Heimweh in Grenzen. Das Schauspielhaus Bochum und sein Intendant Claus Peymann bedeuteten damals für uns den Olymp! Dazu der triste Ruhrpott, die Pommesbuden und Waschsalons – das war für mich als Schweizer in erster Linie spannend. In Hamburg fühlte ich mich am Anfang aber tatsächlich allein.
Warum?
Ich war so naiv, ich hatte keine Ahnung, was Theater bedeutet. Anfangs spielte ich bloss Mini-Rollen – und war jedes Mal froh, wenn meine zwei Sätze als dritter Grieche von links endlich vorbei waren. Du bist ein Langsamer, sagte Jürgen Flimm, der Intendant, du brauchst Zeit, und das stimmte auch. Meine Freunde fehlten mir. Ich konnte nicht mehr lustig sein, weil mein furztrockener Berner Humor hier nicht ankam. Ich war nichts und kannte niemanden. Zum Glück habe ich trotzdem durchgehalten. Die Arbeit mit dem Regisseur Robert Wilson und die Musicals von Tom Waits, die wir inszenierten – das waren für mich später Erweckungserlebnisse.
«Ich war so naiv, ich hatte keine Ahnung, was Theater bedeutet.»
Nach neun Jahren am Thalia-Theater spielten sie 1994 zum ersten Mal vor der Kamera – und zwar gleich die Hauptrolle im prestigeträchtigen Fernseh-Mehrteiler «Der Schattenmann». Er machte Sie auf einen Schlag berühmt.
Plötzlich bekam ich unzählige Anfragen von Journalisten und Talkshows, man wollte mich für Modestrecken in Hochglanzzeitschriften stylen. Mir war das alles zu viel und zu künstlich. Ich habe fast überall abgesagt, sogar bei «Wetten, dass…?». Weil ich gemerkt habe, dass ich die Erwartungen, die dort an mich gestellt werden, gar nicht erfüllen kann und auch nicht erfüllen will.
Selbst eine Einladung von Harald Schmidt haben Sie ausgeschlagen, und der galt damals immerhin als eine Art Gott der Fernsehunterhaltung. Sind Sie zu schüchtern fürs Showbusiness?
Bei Harald Schmidt musste man vor Witz und Anekdoten geradezu sprühen. Mit meinem Gestammel und Gestotter hätte ich mir doch bloss selbst ins Knie geschossen. Immerhin bin ich zu Roger Willemsen gegangen, weil ich merkte, das gehört zum Beruf, das musst du lernen. Ebenso wie ich auch lernen musste, Komplimente anzunehmen.
Dieter Wedel, der Regisseur des «Schattenmanns», geriet später ins Kreuzfeuer der #MeToo-Bewegung. Zahlreiche Schauspielerinnen warfen ihm sexuelle Übergriffe vor. Wie haben Sie ihn erlebt?
Von den Übergriffen habe ich nichts mitbekommen, doch Wedel war ein Choleriker. Andauernd bekam er Tobsuchtsanfälle. Damals dachte ich noch, das ist halt so beim Film. Später habe ich noch einen Mehrteiler mit ihm gemacht, «Die Affäre Semmeling». Danach reichte es mir. In dieser Atmosphäre wollte ich nicht arbeiten.
Beim Film wimmelt es von Diven, Selbstdarstellern und Egomanen. Sie selbst machen einen eher introvertierten Eindruck.
Stimmt. Wenn manche Schauspieler in ein Restaurant kommen, drehen sich alle um. Bei mir weiss man erstens nicht, dass ich ein Schauspieler bin, und zweitens nicht, dass ich gerade reingekommen bin. Ich bin wie ein Geist, den man gar nicht wahrnimmt. Damit kann ich sehr gut leben.
Sie tarnen sich als Nobody?
Ja, in meinem Wesen sind Allüren einfach nicht angelegt. Das wäre mir viel zu anstrengend. Alle glauben, es sei toll, ein Star zu sein. Doch eigentlich macht es einen bloss einsam. Man bekommt kaum noch eine normale Reaktion von anderen Leuten, weil dich alle entweder anhimmeln oder vom Sockel stossen wollen. Berühmt sein ist auch eine Bürde.
Sie sind nun 63 Jahre alt. Wie blicken Sie auf Ihr Leben zurück? Gibt es etwas, das Sie bereuen?
Ich glaube, ich war manchmal zu vorsichtig. Ich hätte mehr wagen können. Ich bin ein harmoniesüchtiger Mensch, vielleicht zu harmoniesüchtig. Für die Kunst ist das nicht immer ideal.
Gab es eine Krise in Ihrem Leben, die sich im Nachhinein als produktiv erwiesen hat?
Meine erste Liebesbeziehung mit meinem Schauspiellehrer Norbert Klassen war anfangs kompliziert. Zuerst dachte ich, nein, das kannst du nicht bringen. Er: Lehrer, ich: Schüler, zudem war er 15 Jahre älter als ich. Die Beziehung widersprach vollkommen dem schillernden Liebesideal, das ich als junger Mann in meinem Kopf hatte. Nach einiger Zeit rang ich mich trotzdem dazu durch, unsere Unterschiede zu akzeptieren. Ich sagte mir: Weiss der Geier, was du bei ihm suchst, aber nimm die Beziehung doch einfach mal so an, wie sie ist. Es hat sich gelohnt. Wir waren danach 20 Jahre zusammen.
- Vom 1. Oktober bis zum 2. Dezember stellt Stefan Kurt seine Bilder im Münster Allerheiligen in Schaffhausen aus.
- In manchen Kinos läuft noch die letztes Jahr gestartete Komödie «Die goldenen Jahre», mit Esther Gemsch und Stefan Kurt in den Hauptrollen. Hier sehen Sie den Trailer.
- «La Cage aux Folles» wird nächstes Frühjahr im Berliner Schiller theater wieder aufgenommen.
- Über «Stüfis» JugendClique in BernBümpliz gibt es einen lohnenswerten Dokumentarfilm: «Tscharniblues II» von Aron Nick (z. B. auf Vimeo). Hier finden Sie den Trailer.
- Mehr Informationen auf stefankurt.com
Im Video «5 Fragen an…» erfahren Sie, wieviel Zeit Stefan Kurt am Handy verbringt, und welches die wichtigste Charaktereigenschaft in seinem Job ist.