5. Geistige Landesverteidigung im Äther Aus «Staatsmann im Sturm»

Welche Rolle soll dem Radio in einer Zeit der Kriegsbedrohung zukommen? Pilet kann nicht auf die Erfahrungen aus dem Weltkrieg zurückgreifen, denn damals war der Hörfunk Sache einiger weniger Radioamateure und noch kein wichtiges Kommunikationsmittel. Die Praxis im Ausland taugt auch nicht als Leitfaden. In Deutschland steht der Rundfunk unter der Fuchtel des Propagandaministeriums. Der schier allmächtige Dr. Goebbels befiehlt, was gesendet werden muss und was nicht gesendet werden darf. Zusammen mit dem Film, vor allem den Wochenschauen, und der Presse formt der deutsche Rundfunk die öffentliche Meinung im Sinne von Partei und Führer. Aus Überzeugung, Karriereerwägungen oder Furcht spuren die deutschen Journalisten. Von abweichenden Meinungsäusserungen ist keine Rede mehr.

Wie kann die Schweiz der antidemokratischen, antisemitischen aggressiven deutschen Propaganda entgegentreten, die viele als für unser Land existenzgefährdend empfinden? Darüber macht sich der Gesamtbundesrat seit 1934 immer wieder Gedanken. Soll man den Fehdehandschuh aufnehmen, wie dies linke Politiker möchten, und Propaganda mit Gegenpropaganda beantworten? Soll das Schweizer Radio als Sprachrohr für Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Völkerverständigung auftreten? Pilet und seine Kollegen haben da eine klare Meinung: David hat gegen Goliath keine Chance.

Aber das Radio kann erklären, was die Schweiz ist. Es kann ihren föderalistischen Staatsaufbau darstellen und diskret andeuten, wie er sich von demjenigen des Dritten Reichs unterscheidet. Es kann auch immer und immer wieder erläutern, was die Schweiz unter Neutralität versteht, und wie sie ihre Rolle in Europa sieht. Pilet will, dass dies nüchtern und unpolemisch geschieht. Es ist sinnlos, die Nazis oder die Faschisten zu reizen. Also keine Schulmeisterei, kein Besserwissertum, keine verbalen Ausfälle gegen die Diktatoren.

Schon am 13. September setzt sich Pilet mit dem Leiter der Radiosektion APF, Hptm. Schenker, zusammen, um allfällige, durch die Kriegsbedrohung und die Mobilisation nötig gewordenen Programmanpassungen zu besprechen. Der Aargauer Kurt Schenker, ursprünglich Jurist, dann Zeitungsjournalist, wurde mit 29 Jahren zum ersten Direktor von Radio Bern gewählt. Er führt es autoritär, aber mit viel Schaffenskraft und Fantasie, und macht es zu einer beliebten, vor allem von den Bernern geliebten Sendeanstalt. Schenker weiss, welche Programme in Bern und der Deutschschweiz beim Publikum ankommen und welche nicht. Reklamationen sind, wie er einmal schreibt, sein täglich Brot.

Geplant ist ein «nationales Programm», eine Gemeinschaftssendung für alle Landesteile. Als Vorbereitung auf das Gespräch mit Schenker macht Pilet sich Notizen. Sieben Themenkreise fallen ihm ein: 1. Schweizer Geschichte. 2. Schweizer Militärgeschichte. 3. Biographien von Schweizer Bürgern. 4. Schweizer Literatur. 5. Schweizer bildende Kunst. 6. Schweizer Musik. 7. Schweizer Wirtschaft. Spontan notiert sich Pilet die Namen von welschen Kapazitäten, oft auch von persönlichen Freunden, als mögliche Referenten.

Zur Erläuterung der Schweizer Geschichte will er zwei ihm persönlich gut bekannte, ehrwürdige Lausanner Historiker heranziehen, den 68-jährigen Maxime Reymond und den 74-jährigen Edmond Rossier. Reymond ist Waadtländer Kantonsarchivar, Redaktor am Feuille d’Avis de Lausanne und freisinniger Grossrat. Seine monumentale dreibändige «Histoire de la Suisse», «von den Anfängen bis heute», ist ein Standardwerk, klug und flüssig geschrieben, in einem Stil, der sich auch für den mündlichen Vortrag eignet. Pilet muss gefallen haben, was Reymond über die Ausübung des Vollmachtenregimes durch den Bundesrat im Krieg 1914–1918 schrieb:

Diese starke Regierung – stark, weil sie mit ihren wesentlichen Schattierungen die Gesamtheit des Schweizervolks widerspiegelte — konnte handeln und anordnen. Aber wir haben deswegen nicht unsere demokratischen Prinzipien, die wir von den Schweizern von 1291 her haben, aufgeben wollen. In entscheidenden Tagen haben sich diese [demokratischen Prinzipien] als eine Macht erwiesen, die sich einwandfrei mit einer klarsichtigen und sicheren Leitung vereinbaren lassen

Die im September 1932 geschriebenen Worte Reymonds könnten auf die Gegenwart, auf September 1939, gemünzt sein. Pilet hätte sie vermutlich tel quel unterschrieben. Der zweite, von Pilet als französischsprachiger Radioreferent vorgesehene Historiker ist Edmond Rossier. Der Ordinarius für Zeitgeschichte an der Uni Lausanne ist Verfasser einer «Histoire politique de l’Europe 1815–1919» und regelmässiger aussenpolitischer Kommentator der Gazette de Lausanne. Pilet, der als Student Rossiers Vorlesungen hörte, schätzt seine klaren, wöchentlichen Analysen des Weltgeschehens. Obwohl gemässigt in der Wortwahl, nimmt «Edm. R.», kein Blatt vor den Mund. Am Tag nach Kriegsausbruch, am 4. September 1939, schreibt er im Leitartikel der Gazette:

Es ist sicher, dass die Affäre von Danzig auf keine Weise den Waffengang rechtfertigt, der sich auf ganz Europa ausbreitet. Wie leicht wäre es gewesen, die Frage mit ein wenig gutem Willen zu lösen! Das Unglück will es, dass das Los der Stadt an das Prestige eines Mannes gebunden ist, der, von den Ereignissen verwöhnt, neue Triumphe begehrt. Und es ist nun so weit gekommen, dass dieser Mann, dessen hohe Stellung an der Spitze eines Staates eine Gefahr darstellt, es erreicht hat, eine grosse Nation in seinem Kielwasser mitzureissen – eine grosse und starke Nation, die sich gehorsam bückt. Das Schlimmste daran: Das hitlersche Deutschland, das im Namen des Lebensraums oder ich weiss nicht welcher Vorstellung von Ehre, seinem Führer folgt, ist eine Gefahr für das freie Leben der Völker, für die Struktur des Kontinents überhaupt geworden.

Auch die anderen Männer – alles Männer, keine Frauen –, die Pilet Schenker als Referenten für das nationale Programm vorschlägt, sind Persönlichkeiten, die in der Romandie geschätzt werden, wenigstens von der bürgerlichen Mehrheit. Die Themen «berühmte Schweizer» und «Schweizer Literatur» sollen bekannte Schriftstellerbehandeln. Pilets Liste sieht so aus:

Robert de Traz? – Henri de Ziegler – Charly Clerc – Chaponnière – Savary – Denisde Rougemont? – Grellet.

Der feinsinnige Dichter Henri de Ziegler, Genfer Professor für italienische Literatur, und Charly Clerc, ETH-Professor für Literatur, setzen sich für den Kulturaustausch zwischen den Sprachregionen ein. De Traz und de Rougemont, zu denen Pilet Fragezeichen setzt, sind berühmte, allerdings umstrittene Intellektuelle von europäischem Ruf. Pierre Grellet und Léon Savary, einflussreiche Bundeshauskorrespondenten und Schriftsteller, werden von Pilet gerne zu sich nach Hause eingeladen. Beide sind wie er «Bellettriens».

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter Born

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Bellettrien? Der Romand weiss, was darunter zu verstehen ist. Ein Bellettrien ist ein gegenwärtiges oder ehemaliges Mitglied der in vier welschen Kantonen existierenden Studentenverbindung Belles-Lettres. Sie unterscheidet sich von den deutschen Burschenschaften oder deutschschweizerischen Verbindungen – den Zofingern, den Helvetern – durch den esprit romand und eine Abneigung gegen Teutonisches: Es wird nicht geschlagen, kein Comment, kein Fuchsmajor, kein Wichs. Pilet ist als 17-jähriger der Verbindung gegen den Willen seines Vaters beigetreten.

Der von Pilet als Radioreferent vorgesehene Henri de Ziegler singt in seinem Buch «Rouge et Vert ou Eloge de Belles-Lettres» das Loblied seiner geliebten Studentengesellschaft. Rot-Grün sind die Verbindungsfarben (ohne ahistorischen politischen Beigeschmack). Als Bellettrien spottet man über Pedanterie, Wichtigtuerei, Heuchelei. Man singt, lacht, spaziert und diskutiert. Gewisse Werte, schreibt de Ziegler, wird man nie in Frage stellen: «Es sind dies die Liebe und die Jugend, der Wein, die Rose und der Frühling.» Die Menschen ändern sich, aber ein Maiabend ist nicht weniger genussvoll als vor hundert Jahren. «Auch ein schöner Vers nicht, auch ein delikater Gedanke nicht, auch ein geistvolles Wort nicht, auch nicht eine harmonische Landschaft, auch nicht ein charmantes Gesicht.»

Der Geist von Belles-Lettres ist der Geist der Romandie. Mit einem Hauch weniger Talent als der Poet de Ziegler hat Pilet immer wieder versucht, seinen Deutschschweizer Landsleuten und seinen Deutschschweizer Bundesratskollegen die Romandie zu erklären. Vermutlich mit wenig Erfolg. Die Romandie, ebenso wie Belles-Lettres, bleibt für viele confédérés ein Buch mit sieben Siegeln. Weil Marcel Pilet-Golaz in seiner Lebensweise, seiner Mentalität und seinem Sprachgebrauche in Bellettrien geblieben ist, begegnen ihm manche Eidgenossen auf der anderen Seite des Röstigrabens mit Kopfschütteln. Was in Lausanne politisch ein Vorteil ist, kann in der Deutschschweiz zum Nachteil werden.

Zurück zu den Radiosendungen, die den Schweizern einhämmern sollen, wer sie sind. Was Militärschriftsteller und deutschschweizerische Referenten anbelangt, notiert Pilet «Voir Schenker». Dieser hat seinerseits eine Liste mit 18 Namen aufgestellt – darunter nicht weniger als 15 Professoren. Auf Schenkers Verzeichnis stehen die Namen von Historikern wie Feller, Bonjour, Guggenbühl, Donath, Gagliardi, Nabholz. Wer dann allerdings im Frühjahr 1940 am Radio über Geschichte und Sinn der Schweiz sprechen wird, ist der St. Galler Werner Näf, Professor für allgemeine Geschichte an der Universität Bern. Sechs magistrale Radiovorträge des hervorragenden Historikers sagen den Zuhörern, worum es für das Land geht:

Wir stehen umringt in einem kämpfenden Europa. Unser Aussenhandel, unsere Landesverpflegung sind schwierig geworden. Dies lastet als Alltagssorge auf uns. Wir haben ihr in kühler Überlegung Rechnung zu tragen. Aber nicht dies wird unser Schicksal entscheiden. Ich weiss aus der Geschichte keinen Fall, dass ein innerlich gesunder, von seinem Volk getragener Staat Leben und Freiheit verloren hätte, nur weil er klein war.



«Staatsmann im Sturm»

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.

«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv

Beitrag vom 19.02.2023

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