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Gefängnisdirektorin Ines Follador: «Respekt ist meine schärfste Waffe»

Ines Follador-Breitenmoser ist Direktorin der Bündner Justizvollzugsanstalt Cazis Tignez. Wie setzt sie sich gegen renitente Häftlinge durch? Was für ein Leben führen die Insassen in der Altersabteilung? Und darf man im Gefängnis eigentlich auch mit Exit sterben?

Interview: Claudia Senn

Ines Follador-Breitenmoser, Sie leiten die Justizvollzugsanstalt Cazis Tignez im Bündnerland. Das Gefängnis ist erst fünf Jahre alt und gilt als das modernste der Schweiz. Was ist bei Ihnen denn besser als in älteren Gefängnissen?
Der Architekt hat sich sehr mit den Bedürfnissen der Menschen auseinandergesetzt, die hier leben und arbeiten. Unsere Gänge und Treppenhäuser sind zum Beispiel breiter als in anderen Anstalten, damit alle gut aneinander vorbeikommen. An einem Ort, wo so viele Leute eng zusammenleben, reduziert es den Stress ungemein, wenn man sich nicht dauernd versehentlich anrempelt. Die Böden sind mit einer Dämpfung versehen, die einen Grossteil des Lärms schluckt. Es ist bei uns auch nicht alles Grau in Grau, sondern hell und freundlich, mit viel Holz und terracottafarbenen Backsteinwänden. Mit ein bisschen Fantasie könnte man Cazis Tignez für ein Internat halten. Oder eine Sportakademie.

Ines Vollador sitzt in der Justiz-Vollzugsanstalt Cazis-Tignez auf dem mittleren von drei Holzstühlen vor einer Backsteinwand.
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Darf ein Gefängnis ein angenehmer Ort sein? Gehört es zur Strafe nicht mit dazu, dass man sich dort unwohl fühlt?
Unser Auftrag besteht darin, die Insassen zu resozialisieren, nicht, sie in ein dunkles Verlies zu sperren. Jeder, der hier rauskommt, könnte später Ihr Nachbar sein. Da sind Sie froh, wenn er keinen Hass auf die Institutionen entwickelt hat. Ausserdem sollte man nicht vergessen, dass hier auch 120 Leute arbeiten. In einer schönen Umgebung fühlen sie sich wohler und arbeiten dadurch besser, das geht uns allen so. Zudem fördert eine gute Atmosphäre die Sicherheit. Wir haben in Cazis Tignez kaum tätliche Übergriffe. Dass Insassen aufeinander losgehen, kommt höchstens einmal im Monat vor – viel seltener als in anderen Anstalten.

Und das führen Sie auf die Bauweise zurück?
Ja, die Architektur unterstützt eine friedliche Atmosphäre. Natürlich ist auch unsere Anstalt von einer  Mauer und hohen Zäunen umgeben, doch sieht man überall die Berge. Sie merken, ob es geschneit hat, ob die Bäume im Frühling neues Laub bekommen oder sich im Herbst verfärben. Obwohl Sie im Gefängnis sind, können Sie sich als Teil der Welt fühlen. Das macht etwas mit den Menschen, mit jedem, egal, ob er eingeschlossen ist oder nicht.

Besteht die eigentliche Strafe darin, dass die Häftlinge kaum eine Entscheidung selbst treffen können?
So ist es, ja. Die Strafe ist der Freiheitsentzug. Im Gefängnis haben Sie kaum noch Freiheiten, wir geben den Takt vor. Um 17 Uhr gibt es Znacht, egal, ob Sie dann hungrig sind oder nicht. Der Menüplan nimmt auch keine Rücksicht darauf, dass Sie gerade Lust auf Pizza haben. Um punkt 19.45 Uhr werden Sie eingeschlossen. Was ziehen Sie an? Wie oft dürfen Sie Sport machen? Mit wem leben Sie in der Wohngruppe zusammen? Nichts davon können Sie selbst entscheiden. Aussenstehende begreifen manchmal gar nicht, wie hart das ist. Weil die Zellen relativ schön sind, höre ich bei Führungen ab und zu: «Hier würde ich auch mal gerne eine Auszeit nehmen.»

Was antworten Sie?
Stellen Sie sich vor, es ist Ostern oder Weihnachten, und Sie haben drei, vier Feiertage nacheinander. Um 19.45 Uhr werden Sie abends eingeschlossen, und dann geht die Tür wie an allen Wochenenden und Feiertagen erst um 11.30 Uhr wieder auf. Sie können bei uns zwar einen Computer mit Office-Programmen mieten, aber Zugang zum Internet haben Sie nicht. Besuch dürfen Sie nur einmal pro Woche bekommen, während maximal einer Stunde. Wenn Sie den ersten dieser zähen, langen Tage überstanden haben, kommt ein zweiter. Und ein dritter. Diese Leere auszuhalten, fällt niemandem leicht. Gerade weil unsere Insassen so wenige Wahlmöglichkeiten haben, wissen sie es sehr zu schätzen, dass sie in ihrer Zelle das Fenster aufmachen können. Frische Luft ist immerhin ein Hauch von Freiheit. Auch das haben wir unserem Architekten zu verdanken. Aber vor dem Fenster gibt es selbstverständlich Gitterstäbe.

«Die meisten älteren Insassen sind Verwahrte, darunter sind Mörder, Vergewaltiger, Pädophile.»

Wie gehen Sie damit um, dass es immer mehr ältere Gefangene gibt?
Die Alterszusammensetzung im Gefängnis ist ein Abbild der Gesellschaft. Wenn es dort mehr ältere Menschen gibt, gibt es sie auch im Justizvollzug. Wir haben eine eigene Altersabteilung mit zehn Plätzen. Die Zellen dort sind etwas grösser, 16 statt 12 Quadratmeter, damit man sich auch im Rollstuhl oder mit einem Rollator gut fortbewegen kann. Die meisten älteren Insassen sind verwahrt, darunter sind Mörder, Vergewaltiger, Pädophile. Weil sie ihre Strafe bereits abgesessen haben, dürfen sie als Verwahrte Privatkleider tragen. Andere sind im Normalvollzug. Und dann gibt es einige wenige, die eigentlich noch gar nicht so alt sind, aber wegen ihrer kognitiven Einschränkungen in einer normalen Abteilung unter die Räder kämen. Deshalb bringt man sie in einem geschützteren Setting unter.

Werden Häftlinge auch pensioniert?
Nein, das Bundesgericht hat entschieden, dass es für sie eine Arbeitspflicht gibt. Das wird aber relativ flexibel gehandhabt, je nachdem, was die Leute noch leisten können. Manche arbeiten nur halbtags, andere den ganzen Tag. Einige machen die regulären Jobs in unseren Gefängnisbetrieben, andere gehen eher ihren Neigungen nach. Einer hat sich kürzlich ein Modell des Raumschiffs Enterprise aus Holz gebastelt, massstabgetreu bis ins Detail. Ein anderer stellt Zigaretten her, die wir intern zu einem günstigen Preis verkaufen. Er betrachtet das als seine Aufgabe und scheint damit ganz zufrieden zu sein. Es geht in erster Linie darum, dass die Leute ins Kollektiv integriert sind und nicht den ganzen Tag allein in ihrer Zelle hocken.

Unter welchen Krankheiten leiden die älteren Häftlinge?
Krebs, Herzinfarkte, chronische Altersgebrechen wie Diabetes, COPD oder Rheuma. Da ist alles dabei, was die Leute draussen auch bekommen. Nur Demenzkranke hatten wir bisher noch nicht. 

Ist in der Altersabteilung schon einmal jemand gestorben?
Bisher nicht, aber früher oder später wird das passieren. Da stellt sich die Frage: Ist ein Gefängnis der richtige Ort zum Sterben? Im offenen Vollzug in Realta gab es einen 88-Jä­h­rigen, bei dem man merkte, dass es bald zu Ende geht. Man gewährte ihm einen Haftunterbruch, damit er zu Hause bei der Familie sterben konnte.

Im Mai schied der als «Babyquäler» bekannt gewordene René Osterwalder im Alter von 71 Jahren mit Exit aus dem Leben. Er sass in einem Zürcher Gefängnis ein. Hätten Sie ihm das auch erlaubt?
So etwas entscheiden die Behörden, nicht die Gefängnisdirektorin. Ich könnte höchstens eine Empfehlung aussprechen. Grundsätzlich kann ich nachvollziehen, dass jemand sein Leben beenden will, wenn er überhaupt keine Perspektive mehr hat. Trotzdem gibt es natürlich die Diskussion: Darf man das? Oder entzieht man sich damit der Strafe? Diese Frage muss in solchen Fällen die einweisende Behörde klären.

Gibt es Insassen, für die das Gefängnis ein Zuhause geworden ist?
Ja, manche Häftlinge mit langen Haftstrafen würden sich draussen nicht mehr zurechtfinden. In einem Zürcher Gefängnis gab es einen Gefangenen, der beim Bahnhof Letten im Drogenmilieu einen Mord begangen hatte. Als er nach 25 Jahren entlassen wurde, war er völlig überfordert, weil sich die Welt so stark verändert hatte. Andere sind kognitiv so eingeschränkt, dass sie allein gar nicht überlebensfähig sind. 

«Mit manchen Insassen sind die Gefängnisse ebenso überfordert wie die Psychiatrien.»

Was passiert mit solchen Leuten, wenn sie ihre Strafe abgesessen haben?
Leider gibt es viel zu wenige Institutionen, die für sie geeignet sind. Manche ehemaligen Insassen werden wieder straffällig, weil sie gar nicht anders können. Dann landen sie erneut bei uns. Wir päppeln sie gesundheitlich auf, sorgen dafür, dass sie regelmässig essen und duschen. Wenn der Tag kommt, entlassen wir sie, und alles geht von vorne los … 

Ines Vollador auf dem Innenhof der Justiz-Vollzugsanstalt Cazis-Tignez. Sie steht im Schatten vor einer Mauer und schaut in die Kamera.
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… eine Art Drehtür-Justizvollzug.
Genau. Die Gefängnisse sind mit solchen Menschen ebenso überfordert wie die Psychiatrien. Viele Häftlinge sind psychisch krank. Unter unseren 120 Mitarbeitenden gibt es aber leider nur eine einzige Psychiatriepflegerin. Wir könnten mehr gebrauchen.

Wie nahe lassen Sie die Delikte der Insassen an sich heran?
Nicht nur ich selbst, auch alle meine Mitarbeitenden kennen die Akten. Wir wissen, dass Herr M. ein dreimonatiges und ein fünfjähriges Kind missbraucht hat. Trotzdem steht da jetzt ein Mensch vor uns, und wir müssen ihn als Menschen respektieren. Zum Glück ist das Urteil bereits gefällt. Unsere Aufgabe ist bloss, es zu vollziehen, das macht es etwas leichter. Aber es ist schon so, dass wir – um es plakativ auszudrücken – mit sehr viel «Bösem» konfrontiert sind. Kommt dazu, dass wir wegen der Schweigepflicht nicht mit unseren Angehörigen über den Gefängnisalltag sprechen dürfen. Da braucht man unbedingt einen Ausgleich, eine helle und freundliche Welt, die einen zuversichtlich stimmt, und in der man regenerieren kann. Ob Sie lieber Badminton spielen, fischen gehen oder – so wie ich – mit den Enkeln spielen, ist im Prinzip egal. Nur Spass sollten Sie haben.

«Es ist wichtig, eine Beziehung zu den Insassen aufzubauen. Das dient der Sicherheit.»

Wie finden Sie im Gespräch mit den Gefangenen die richtige Balance zwischen Anteilnahme und professioneller Distanz?
Es ist wichtig, eine Beziehung zu den Insassen aufzubauen. Das dient der Sicherheit. Jemand, der eine Beziehung zu mir hat, schlägt nicht so schnell zu, wenn es mal hart auf hart kommt. Man nennt das «dynamische Sicherheit», es gilt als Erfolgsmodell im Strafvollzug. Wenn doch einmal zwei oder drei Insassen aufeinander losgehen, werten wir stets die Bilder der Überwachungskameras aus. Da sieht man oft, dass sich andere Häftlinge schützend vor die Mitarbeitenden stellen, damit ihnen ganz sicher nichts passiert. Das zeigt, dass wir unsere Arbeit richtig machen. Gleichzeitig darf man sich auch nicht zu nahe kommen. Das ist eine schwierige Gratwanderung.

Können Sie das genauer erklären?
Bei allem, was uns ein Häftling erzählt, sollten wir wachsam bleiben. Wir dürfen Anteilnahme zeigen, aber wir müssen uns auch fragen: Gibt es einen Grund dafür, dass er mir das gerade jetzt erzählt? Möchte er damit etwas erreichen? Wir haben eine Reihe hochmanipulativer Betrüger hier drin. Die spüren genau, für welche Art von Bauchpinselei ich empfänglich bin und lullen mich mit Komplimenten ein – um später von mir zu bekommen, was sie wollen.

Wie reagieren Sie darauf?
Ich sage: «Danke. Sie haben mich aber um ein Gespräch gebeten. Was ist Ihr konkretes Anliegen?» Mit sachlicher Freundlichkeit fährt man meist am besten. 

In einem Gefängnis voller schwerkrimineller Männer müssen Sie glaubhaft vermitteln, dass Sie die Chefin sind. Wie gelingt Ihnen das?
Meine schärfste Waffe ist der Respekt. Den fordere ich auch von meinem Vis-à-vis ein. Laut werde ich so gut wie nie. Im Ernstfall sage ich: «Sie kommen mir gerade zu nahe.» Oder: «Sie dämpfen jetzt Ihre Stimme, sonst gehe ich weg.» Interessanterweise habe ich mit ausländischen Männern viel weniger Hierarchieprobleme als mit Schweizern. Vor allem jene aus dem Maghreb begreifen sofort, dass ich in diesem Haus das Sagen habe. Dass ich eine Frau bin, spielt da gar keine Rolle.

© Jessica Prinz

Zur Person

Ines Follador-Breitenmoser (65) wuchs in Gossau SG, auf und zog später der Liebe wegen ins Bündnerland. Als junge Frau war sie Telefonistin bei der PTT. Als ihr Sohn ins
Kindergartenalter kam, holte sie auf dem zweiten Bildungsweg die Matura nach und studierte an einer Fernuniversität Literaturwissenschaften, Psychologie und Pädagogik. Später kam noch ein Master in Arbeits- und Organisationspsychologie hinzu. Parallel zu ihrem Studium unterrichtete sie an einer Migros-Klubschule, deren pädagogische Leitung sie schliesslich übernahm. 2011 wurde sie Direktorin des über 200 Jahre alten Gefängnisses Sennhof in der Churer Altstadt, das im Jahr 2020 vom Neubau Cazis Tignez abgelöst wurde.

Beitrag vom 18.09.2025