
Das Hospiz am Pass der Seelen
Wo einst die Bauern von Tenna ihre Milch hinkarrten, verbringen heute eine Handvoll Menschen ihren Lebensabend. Ein Besuch in der «Alten Sennerei» im bündnerischen Safiental.
Text: Marco Guetg, Bilder: Nicola Pitaro
Von der RhB-Station Versam schleicht das Postauto die Bündner Rheinschlucht hoch ins Dorf Versam und dann weiter ins Safiental bis zur Abzweigung Tenna. Dann gehts flott bergauf, dreihundert Höhenmeter durch Wald, Weiden und Wiesen bis zur Endstation auf 1650 m ü. M. Hier hats wie in jedem Dorf eine Kirche – aber auch, was aus vielen Bergdörfern verschwunden ist: eine Schule, eine Post, einen Volg-Laden, ein Hotel. Knapp 120 Menschen leben hier.

Tenna hat eine intakte Infrastruktur und eine Zentrumsfunktion. Das ist mit ein Grund, dass seit 2021 an diesem Sonnenhang das Tenna Hospiz steht, in dem die Wohngemeinschaft «Alte Sennerei» mit ihrem alternativen Betreuungs- und Pflegeangebot zu Hause ist. Wo einst Bauern ihre Milch hinkarrten, können Menschen nun ihren Lebensabend verbringen.
Welcher Geist hinter dem Gebälk gelebt wird, verrät die Inschrift an der Aussenfassade des Doppelstrickbaus: «Würdig läbä, da sii und Ziit ha füranand, gaschtlich sii.» Das Motto ins Holz meisseln liess Othmar F. Arnold. Der gebürtige Luzerner ist der Initiator des Projektes. Er präsidiert den Verein Tenna Hospiz und leitet das Haus auf kollegial unkomplizierte Weise. Das erlebt auch der Besucher an diesem nebelverhangenen Donnerstag im Mai. Arnold streckt ihm die Hand entgegen und sagt: «Othmar. Im Safiental duzt man sich.» Der schlaksige 64-Jährige hat hier in Tenna verwirklicht, was er einst in Kanada geträumt hat: «Menschen, die pflegebedürftig werden, bis zuletzt die Möglichkeit geben, in Würde zu leben und in Frieden zu sterben.»


Der Lebensabend der Pedrettis
Wir sitzen in der «Stube» an einem Tisch aus Arve. Hier schlägt das Herz des Hauses. Das ist der «Sozialraum Café», die Scharnierstelle des Projektes. Er verbindet die Wohngemeinschaft des Hauses mit der Bevölkerung des Safientals. Hier trifft sich, wer hier wohnt, hier tauchen aber regelmässig auch Menschen aus dem Dorf zum Schwatz oder Spiel auf. Hier macht die Pfarrerin wöchentlich ihre Seelsorgerunde. Und es gibt Tage, «da kommen hochaltrige Dorfbewohner zum Zmittag», sagt Othmar, «zum Sozialtarif von 25 Franken oder zum Kaffee.» Es ist kurz vor elf Uhr.

Am langen Tisch sitzt der Künstler Gian Pedretti beim Frühstück. Still und in sich versunken trinkt der 99-Jährige seinen Tee. Später am Tag wird er den Besucher in den oberen Stock des Hauses führen, wo im Korridor seine Bilder und eine Skulptur seiner Frau Erica hängen. Pedretti, der Engadiner, wollte nach vielen Jahren in La Neuveville am Bielersee im hohen Alter wieder nach Samedan zurückkehren. Er hielt es in seiner alten Heimat aber schlicht nicht aus. «Kaputt» sei das Oberengadin», sagt er mit schwacher Stimme und hörbarem Zorn. Wir stehen vor seinem grossflächigen Bild «Der letzte Mensch», aus dem mit traurig-verzweifeltem Blick ein Mensch in eine sich auflösende Welt blickt.
In Tenna fand das Ehepaar, was es im Oberengadin verloren hatte: Ruhe, eine intakte Umwelt, vor allem aber Achtsamkeit. Im April 2022 bezogen die beiden im obersten Stock eine kleine Wohnung. Für die 93-jährige Schriftstellerin wurde es ein kurzer Aufenthalt. Drei Monate nach der Ankunft in der ersehnten Idylle starb sie. Und auch der kleine Kunstspaziergang mit dem Künstler sollte die letzte Begegnung sein. Wenige Tage später, am Auffahrtstag, ist Gian Pedretti gestorben. «El giaiva sur la Fuorcla dal Ormas» beginnt der Nachruf auf der Homepage des Hospizes, «er ging über den Pass der Seelen.»
Es mangelt an Personal für mehr Gäste
Das Haus hat vier kleine Wohnungen mit einer Kochnische, einem Bad, viel Licht und prächtiger Aussicht. Ausserdem zwei Pflegezimmer, zwei Aufenthaltsräume, einen Raum für Angehörige und das Café. Alle Bewohnenden haben die Möglichkeit, individuell zu wohnen und sich ihre Mahlzeiten zuzubereiten. Die Wohngemeinschaft, das ist das Haus als Ganzes. Das ist ein Angebot, keine Verpflichtung.

Es ist Mittagszeit. Claudia hat einen Topf mit Polenta auf den Tisch gestellt, dazu gibt es Geschnetzeltes, Gemüse, Salat und ein Tiramisù. Sie sitzen alle am Tisch: Abraham mit seiner Frau Ursula, die ihren Hof in Versam dem Sohn übergaben und glücklich sind, in vertrauter Umgebung alt zu werden. Christian, der Schreiner aus Tenna, der hier eine Stütze gegen die Unbill des Alters gefunden hat. Rosa zog im Januar dieses Jahres ins Hospiz, nachdem sie sich bei einem Sturz verletzt hatte und nicht mehr allein in ihrem Haus leben wollte. Und oben an der Ecke höckelt Gian, der nach dem letzten Frühstücksbissen gleich zum Zmittag sitzen bleibt.
Das Haus böte Platz für mehr. Doch es mangelt an Personal. Fürs Housekeeping finden sich im Dorf oder Tal Menschen, «und die Pflege kaufen wir bei der Spitex ein», sagt Othmar. Was vor allem fehlt, ist eine «sorgende Mitbewohnende», die die Funktionen von Othmar mitträgt und entlastet. Die Stelle wurde schon besetzt, doch länger als sechs Monaten blieb niemand. 3,8 Millionen Franken hat der Bau gekostet und ist «zu 100 Prozent spendenfinanziert» sagt Othmar.

Betrieben wird das Hospiz wie ein Kleinunternehmen, das eine Wohngemeinschaft führt, «mit vollem Risiko, da wir weder Subventionen noch Sozialbeiträge erhalten.» Finanziert wird der Betrieb durch Beiträge der Mitbewohnenden. Sie setzen sich zusammen aus den Mietkosten, je nach Grad der Selbstständigkeit einem Haushaltsbeitrag und einem Beitrag in den Solidaritätsfonds. Die Tarife bewegen sich ab 3500 Franken im Monat. Sie sollen, so Othmar, «für alle erschwinglich sein.»
Solitär in der Schweizer Pflegelandschaft
Das Modell Tenna Hospiz funktioniert allerdings nur im Zusammenspiel von «bezahlter und freiwilliger Care-Arbeit.» Es spielen mit: ein Trägerverein, Angestellte im Stundenlohn, pflegende Angehörige und Othmar als Koordinator und Mediator. Nicht zu vergessen die gegenseitige Unterstützung der Mitbewohnenden in der WG. «Zurzeit funktioniert sie so gut,» sagt Othmar, «dass wir hundert Stellenprozente einsparen können.»

Das Modell ist ein Solitär in der Schweizer Pflegelandschaft. Strukturell ähnlich geführt werde, so Othmar, einzig das Kapuzinerkloster in Schwyz, das vor dreissig Jahren in eine Palliativ-Station umgebaut wurde. Was Othmar, der Wissende, einem Wollenden rät? «Erstens: Komm vorbei und erlebe, was wir hier machen. Es braucht Mut und Frechheit. Zweitens: Es braucht absolute Unabhängigkeit von den Privilegien und Pfründen des Schweizer Gesundheitswesens.» Othmar weiss, wovon er spricht: «Eine ähnliche Initiative in Andeer und eine im Prättigau wurden aktiv verhindert – von der Behörde.»
Allen Widrigkeiten zum Trotz: Othmar ist überzeugt, dass das Tenner Modell auch wirtschaftlich funktioniert. «In einem Umfeld von Gesundheitsversorgung und Politik, in dem vor allem Probleme, Defizite, Fehlanreize, mangelnde Mittel, schlechte Arbeitsbedingungen und ungenügende Entschädigungen beklagt werden, sind wir ein kleiner Leuchtturm. Es gibt Alternativen – wir leben sie.»
Es ist später Nachmittag. Wir sitzen wieder am Arventisch. Der Besucher fragt: «Othmar, bist du ein unverbesserlicher Optimist?» «Nein», widerspricht er in seinem sonoren Bariton, «ein hoffnungsloser!»
Rückkehr an den Sehnsuchtsort
- Othmar F. Arnold und Tenna: Das ist eine alte Geschichte. Sie reicht zurück in die frühen 1980er-Jahre, als sich der Dienstverweigerer Arnold aus Sursee LU zu einem freiwilligen Zivildienst in der Berglandwirtschaft entscheidet. Während dieser Arbeit wächst der Wunsch, mal einen Sommer auf einer Alp zu verbringen. Aber wo? Es ist ein Bauer aus Tenna im Safiental, der dem jungen Mann einen Hirtenstock in die Hand drückt. Arnold gefällts. Einen Sommer später trifft man Arnold erneut auf einer Safier Alp. Tenna wird zum Sehnsuchtsort.
- Wen wunderts, dass sich Arnold, als er vom Tod des «Bankenmichels» in Tenna erfährt, sich um die Nachfolge bewirbt? Der 25-Jährige wird Chef der Raiffeisenbank. Es ist ein 30-Prozent-Job mit Freiräumen. Arnold wird Bergbauer. Doch mit der Pacht will es nicht so recht klappen. Nach zwei Jahren steht Bauer Arnold plötzlich ohne Land da. Was tun? Die Antwort führt zur grössten Zäsur in seinem Leben: Mit Kind und Kuh gehts nach Kanada. Es ist ein Aufbruch ins Unbekannte, gleichzeitig auch die Zerstörung einer Illusion. Denn bald muss Arnold erkennen, dass Landwirtschaft letztlich nicht seine Berufung ist.
- Es geht zurück auf Feld eins. Arnold zieht mit der Familie an den Rand eines indigenen Dorfes und führt als «Wilderness Guide» Touristen durch die Gegend. Im Winter hält er die Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Bald wird er angefragt, ob er bei der Feuerwehr mitmachen wolle, bei der Sanität und der Ambulanz. Im Rückblick ist ihm klar: «Das war mein Einstieg in die Pflege».
- Arnold bildet sich zum Rettungssanitäter aus. Mit 40 Jahren beginnt er am Selkirk College in Castlegar im Südwesten der Provinz British Columbia das Studium zum Pflegefachmann. Dort wird ein breites Berufsverständnis vermittelt. Pflegende sollen mehr Verantwortung übernehmen und in Bereichen mitdenken und entscheiden, die hierzulande Ärzten vorbehalten sind. 2005 folgt der Bachelor in Pflegewissenschaften, fünf Jahre später der Master. Dazwischen arbeitet Arnold in der Langzeit- und Demenzpflege, in einem Aids-Hospiz und sammelt bei Einsätzen in Uganda, Ruanda oder Pakistan Erfahrungen als humanitärer Katastrophenhelfer. Es ist aber auch die Zeit, während der das Bedürfnis nach einer Rückkehr in die Schweiz wächst.
- Ein Inserat der Spitex Foppa in Ilanz lockt ihn 2013 schliesslich zurück und in den traditionellen Pflegeberuf. Arnold bildet sich weiter, absolviert 2016 gar ein theologisches Nachdiplomstudium …
und initiiert schliesslich in Tenna das «Hospiz Alte Sennerei», diesen «Ort zwischen Heim und Daheim», wo «alte Menschen in einer Wohngemeinschaft und in vertrauter Umgebung leben und kompetent und achtsam durch fragile Zeiten begleitet werden.» Seit 2021 leitet der 64-Jährige das Hospiz, unterstützt von einem kleinen Team aus Fachleuten. - Übrigens: Jenen Bauer aus Tenna, der vor über vierzig Sommer Othmar F. Arnolds Alpwunsch ermöglicht hatte, durfte er zu Hause in den Tod begleiten. Seine Frau ist heute Bewohnerin im Hospiz.