
Rollatoren zur Primetime
Reality-TV im Pflegeheim: Geht das? Oder geht das fürchterlich schief? Mit «Herbstresidenz» beschreitet der deutsche Sender Vox neues Terrain. Das Format ist überraschend mutig und zeigt, dass Fernsehen mehr kann als Unterhaltung.
Text: Claudia Senn
Natürlich könnte eine Doku-Soap im Pflegeheim grandios schief gehen: Vulnerable Menschen könnten auf dem Altar der Primetime-Fernsehunterhaltung geopfert werden. Das Kamerateam könnte den ohnehin schon völlig überlasteten Pflegenden im Weg stehen und deren Arbeit zusätzlich erschweren. Der prollige Fernsehkoch Tim Mälzer, der das Projekt gemeinsam mit dem Schauspieler André Dietz leitet, könnte die Bewohnerinnen und Bewohnern mit der ihm eigenen Dampfwalzenhaftigkeit überfahren. Die Kamera könnte die Intimsphäre der Bewohnenden verletzen. Die Würde aller Beteiligten könnte mit Füssen getreten werden.
Könnte. Doch nach einer Folge lässt sich sagen: All diese Klippen umschifft «Herbstresidenz» erstaunlich souverän.

Angelegt ist das Format als Versuchsballon: Für drei Monate checken Tim Mälzer (53) und André Dietz (49) im Pflegeheim St. Niklaus in Bernkastel-Kues an der Mosel ein, mit dem Ziel, das Heim zu einem echten Zuhause für die Bewohnerinnen und Bewohner zu machen. Das St. Niklaus ist kein Horror-Haus, es gibt hier top motiviertes Personal, das sich mit Herzblut und Empathie um die Bewohnenden kümmert. Und dennoch leidet das Heim unter strukturellen Mängeln: Der Pflegenotstand führt dazu, dass das Personal unter Dauerstress steht und kaum Zeit hat, mit den Bewohnern ein persönliches Wort zu wechseln. Die sterile Krankenhaus-Einrichtung verströmt grau-beige Tristesse. Die unterbeschäftigten Bewohnerinnen versinken in Depression und Lethargie. «Das ist doch kein Leben mehr», hört man sie sagen, «ich warte nur noch auf meinen letzten Tag» oder: «Alte haben einfach keine Lobby».
Holpriger Start
In diese Endzeitstimmung platzen nun Mälzer und Dietz, und sie bringen Verstärkung mit. Schon 2022 hatte das Duo mit einem ähnlichen Format Furore gemacht. In «Zum Schwarzwälder Hirsch» begleiteten sie 13 junge Menschen mit Down-Syndrom, die einen Monat lang lernten, ein eigenes Restaurant zu führen. «Das klappt nie!» lautete damals der öffentliche Tenor. Es klappte doch, brachte manchem Teilnehmer einen Job in der Gastronomie ein und den beiden TV-Machern zwei Grimme-Preise.
Wenn der Pflegenotstand schon so dramatisch ist, sagten sich Mälzer und Dietz, warum nicht Personal rekrutieren, das gerne arbeiten würde, aber auf dem Arbeitsmarkt normalerweise keine Chance hat? Und so lassen sich in «Herbstresidenz» zehn sorgfältig gecastete junge Menschen mit Behinderung zu Pflegehelfern ausbilden. Auch André Dietz Tochter (die nicht bei «Herbstresidenz» dabei ist) ist schwer behindert, das erhöht die Glaubwürdigkeit, dass es Dietz und Mälzer mit der Inklusion wirklich ernst ist. Sie leidet am Angelman-Syndrom, einem seltenen Gendefekt.
Anfangs ist die Skepsis im St. Niklaus riesig. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind voller Ängste und Vorurteile, befürchten Chaos, unberechenbare Reaktionen oder sogar Schläge von den behinderten Azubis. Auch die Pflegeneulinge haben es nicht leicht. Plötzlich so intime Dinge tun wie nackte Menschen zu waschen! Da packt manchen erst einmal die Überforderung.
Doch nach einem holprigen Start kommt bald Leben in die Bude. Mit jugendlichem Elan mischen die Pflegehelfer das Heim auf. Gleichförmigkeit und Tristesse weichen einem quirligen Miteinander. Manche der Azubis blühen bei ihrer Aufgabe regelrecht auf. Andere erobern die Herzen von Bewohnerinnen und Bewohnern, die sich längst in Einsamkeit und Isolation zurückgezogen hatten. Das mitzuerleben ist herzerwärmend und lässt die Frage aufkommen, ob das Modell nicht Schule machen könnte.
Win-win-Situation
Im St. Niklaus jedenfalls will man nicht zurück zu den alten Verhältnissen. Nach Abschluss der dreimonatigen Dreharbeiten übernahm das Heim die meisten der zehn behinderten Pflegehelfer. Sie arbeiten bis heute dort, entlasten das Pflegepersonal, können sich einbringen, werden gebraucht und von den Bewohnerinnen und Bewohnern geschätzt. Eine klassische Win-win-Situation.
Der Vierteiler «Herbstresidenz» läuft mittwochs, um 20.15 Uhr, bei Vox. Verpasste Folgen lassen sich auf RTL+ streamen.
Noch vor ca. einem halben Jahr wollte ich die Zeitlupe nicht mehr abonnieren. Jetzt ist die neue Zeitlupe mit solch guten, lehrreichen und unterhaltenden Beiträgen gemacht, dass ich sie vermissen würde. Grosses Kompliment und vielen Dank für die grosse Arbeit. Freundliche Grüsse D. Grämiger