Erfolgreich gewehrt
Die Klimaseniorinnen sind mit ihrer Klage bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangt. Immer wieder haben dort ältere Menschen Recht erhalten. Die Zeitlupe blickt auf fünf spannende Fälle zurück.
Text: Fabian Rottmeier
17 Richterinnen und Richter fällen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Entscheide, die teilweise für ganz Europa wegweisend sind. Das Strassburger Urteil über den Fall der Klimaseniorinnen, die den Schweizer Staat verklagt haben, könnte gar eine weltweite Signalwirkung haben. Die Schweizer Seniorinnen machen eine Verletzung ihrer Menschenrechte geltend, da die hiesigen Behörden ihre Gesundheit zu wenig vor den Folgen des Klimawandels schützen würden. In der Schweiz ist der Verein damit juristisch dreimal abgeblitzt. Doch der EGMR hat dem Fall oberste Priorität gegeben – und Ende März in der Grossen Kammer behandelt (lesen Sie auch hier unsere ausführliche Reportage dazu). Ein Entscheid wird frühestens Ende Jahr erwartet.
Auf der Website des EGMR ist von interessanten Fällen zu lesen, in denen sich ältere Menschen bereits in den vergangenen Jahren erfolgreich gewehrt haben. Wir stellen fünf davon vor.
Zu schleppendes Verfahren
Fall Jablonska gegen Polen
Wie lange darf es dauern, um eine Urkunde notariell aufzuheben? Zehn Jahre? So lange hatte sich eine 81-jährige Polin gedulden müssen. Jedes Erscheinen vor dem Landgericht bedeutete für die Seniorin eine «lange und ermüdende Reise», wie es im Informationsblatt des EGMR heisst. Der Gerichtshof hiess die Klage gut. Ihr Recht auf ein faires Verfahren sei verletzt worden. Die polnischen Gerichte hätten aufgrund des Alters der Frau besonders sorgfältig handeln müssen – und nicht besonders langsam.
Mutter verschwunden
Fall Dodov gegen Bulgarien
Im Jahr 2008 klagte ein Mann gegen den bulgarischen Staat – nach einer schrecklichen Tragödie. Seine Mutter war an Demenz erkrankt und hatte deshalb in einem staatlichen Alterspflegeheim gelebt. Weil das Personal eines Tages nachlässig handelte, verschwand die Mutter aus dem Zentrum – für immer. Trotz der Anweisung, sie niemals unbeaufsichtigt zu lassen. Das Strassburger Gericht stellte eine Verletzung von Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem Recht auf Leben, fest. Ebenso waren die Richterinnen und Richter der Ansicht, dass die Behörden dem Mann nicht die nötigen Rechtsmittel zur Verfügung gestellt hatten, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ebenso verletzt war das Recht auf ein faires Verfahren, hatte die juristische Angelegenheit doch ganze zehn Jahre gedauert.
Die kleine Revanche
Fall Gross gegen die Schweiz
Nur wenige Fälle werden in der Grossen Kammer des EGMR behandelt. Einer Schweizer Seniorin gelang gleich mehr als das: Sie brachte die Richterinnen und Richter im Jahr 2013 dazu, ihre Klage gutzuheissen, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre tot war. Das Gericht hielt fest, dass ihr zu Unrecht die Möglichkeit verweigert worden war, ihr Leben per begleitendem Suizid ein Ende zu bereiten – unter anderem, weil sie nicht an einer klinischen Krankheit litt. Dies stellte eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens dar. Das Schweizer Recht sei nicht «eindeutig genug hinsichtlich der Frage, in welchem Fall ein begleitender Suizid erlaubt ist», so das Gericht. Der Entscheid wurde 2014 annulliert, weil die Seniorin absichtlich dafür gesorgt hatte, dass ihr Anwalt – und damit auch der EGMR – nicht über ihren Tod informiert wurde. Trotzdem: ein kleiner, posthumer Sieg für die Klägerin.
Eine fragwürdige Wartezeit
Fall Schlumpf gegen die Schweiz
Sind zwei Jahre als Überlegungsfrist rechtens oder gesundheitsgefährdend, wenn es um eine operative Geschlechtsumwandlung geht? Die 17 Richterinnen und Richter befanden 2009, dass die Weigerung der Krankenkasse, diese Operation vor der üblichen zweijährigen Wartefrist zu bezahlen, die Menschenrechte verletzt hatte. Eine 67 Jahre alte Beschwerdeführerin aus der Schweiz sorgte auf juristischem Weg für eine verspätete Genugtuung. Die trans Frau hatte geltend gemacht, dass sie sich seit über einem Vierteljahrhundert sicher sei, transsexuell zu sein (lesen Sie dazu auch unser bewegendes Porträt) . Trotzdem wollte die Person ihre Verantwortung als Ehemann und Vater wahrnehmen – und wartete mit einer Geschlechtsoperation so lange zu, bis die Kinder erwachsen und die Frau schon seit Längerem verstorben war. Dies, obwohl die Person seit ihrer Kindheit psychologisch darunter litt und wiederholt suizidal war. Für das Gericht war klar: Aufgrund des Alters der Klägerin beeinträchtigte die Wartefrist die persönliche Freiheit. Es sei keine gerechte Abwägung vorgenommen worden. Und dies bei «einem der intimsten Gesichtspunkte des Privatlebens».
Windeln statt Pflegeperson?!
Fall McDonald gegen das Vereinigte Königreich
Erfolgreich zur Wehr setzte sich 2014 auch eine 71-jährige Britin. Sie wollte sich die Demütigung nicht bieten lassen, dass sie nun nachts Inkontinenzeinlagen tragen sollte, obwohl sie nicht inkontinent war. Die lokalen Behörden hatten diese Massnahme veranlagt, um die Kosten für eine Nachtpflegeperson zu sparen, die der Seniorin beim nächtlichen Toilettengang behilflich gewesen wäre. Das Gericht stellte eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens fest, da der Eingriff nicht in Einklang mit dem nationalen Recht stand.