© Gerard Visser

Teil 5: Freunde und Bekannte informieren Tagebuch einer Sterbenden

Mit dem Tod vor Augen frage ich mich: Wen will und muss ich über meine Krebsdiagnose informieren? Mir kommen sogleich die Vorgesetzten und Auftraggeber in den Sinn. Ich rufe sie als erste an, und alle reagieren äusserst verständnisvoll darauf, dass ich die anstehenden Verpflichtungen nicht wahrnehmen kann und diese meiner Stellvertreterin übergebe. Später muss ich nachfassen. Mein Ausfall dauert länger als gedacht. Ich werde wohl nicht mehr zurückkommen.

Auch meine erste grosse Liebe will ich über mein Sterben informieren. Ich war dreizehn und er sechzehn, als wir zusammen kamen. Unsere Liebe war warm und unschuldig, wir sind über all die Jahre in Kontakt geblieben. Uns ging nie der Redestoff aus, wir konnten über so vieles herzhaft lachen. Nach meinem Anruf kommt mein Freund sofort zu Besuch im Clara Spital. Unter den Bäumen im Park, bei strahlendem Sonnenschein bringe ich ihn auf den neuesten Stand, wie sich meine Erkrankung entwickelt. Danach berichtet er aus seinem Alltag. Unser Austausch soll sich nicht auf die Krankheit beschränken, sondern das Leben miteinschliessen. Kaum ist er daheim, mailt er mir das alte Foto eines Baumes, auf den er während unserer gemeinsamen Zeit geklettert ist. Auch er behielt offenbar Erinnerungsstücke an unsere gemeinsame Jugend.

Ich war nicht allen immer eine «gute» Freundin – obwohl ich mich immer voll auf jene Menschen eingelassen habe. Nun ist es höchste Zeit, für ein letztes Wiedersehen.

Nach ein paar Tagen überlege ich weiter. Wer ist oder war in meinem Leben wichtig? Wen möchte ich nochmals sehen, bevor es zu spät ist? Wer soll an meine Abdankungsfeier kommen? Nun gehe ich meine Überlegungen etwas systematischer an. Ich versuche mich an die einzelnen Lebensphasen genau zu erinnern, an die Schulstufen, Arbeitsplätze und Wohnorte. Zum Glück brachte ich alte Fotos ins Spital mit. Sie dienen mir jetzt als Erinnerungsstützen.

Die Liste steht. Ich kontaktiere sogleich meine liebste Freundin aus der Primarschulzeit. Sie reist umgehend mit ihrem Mann durch die halbe Schweiz zu mir. Wir weinen bitterlich. Wir hatten uns zwar immer wieder besucht. Jedoch nicht so häufig, wie wir es uns gewünscht hätten. Nun ist die Zeit knapp, um das Versäumnis nachzuholen.

Die Frage stellt sich immer wieder aufs Neue: Wie kann ich Freundinnen und Freunden mitteilen, dass ich sterben werde, ohne sie über die Massen zu schockieren? Denn brüskieren will ich sie nicht. Also suche ich nach immer neuen Wegen, wie sich das vermeiden lässt. Anfangs rufe ich andere an, als möchte ich mit ihnen ein normaler Schwatz halten – darüber, wo wir beide im Leben stehen. Ich hatte mir schon vor meiner Diagnose angewöhnt, erst die anderen reden zu lassen, ihnen den Vortritt zu lassen. Denn ich bin eine, die sehr viel und gern von sich erzählt. 

An dieser Gewohnheit halte ich auch nach meiner Diagnose fest. Leider bewährt sie sich nicht wirklich. Das zeigt die Reaktion einer Bekannten, die ich schon länger nicht mehr gehört oder gesehen habe. Sie erkennt mich am Telefon und freut sich sehr darüber, dass ich mich bei ihr melde. «Hallo, liebe Michèle, wie geht es denn Dir?» Ich lenke ab. Statt zu antworten, stelle ich eine Gegenfrage: «Wie geht es Dir, und vor allem: Wie geht es deiner dementen Mutter?» Meine Bekannte beginnt lang und ausführlich zu berichten, wie sie zwischen Arbeit, Mutter und eigener Familie hin- und herpendelt, wie anspruchsvoll das ist. Daraufhin übergibt sie mir das Wort. Nach meiner Nachricht bricht sie in Tränen aus und hat ein schlechtes Gewissen, dass sie so munter über ihre Sorgen plaudert, derweil ich mit einer so schwerwiegenden Diagnose konfrontiert bin. Es dauert lange, bis sie zur Ruhe kommt und wir über meine Situation sprechen können – so sehr ich ihr versichere, dass es für mich in Ordnung ist, jetzt zu sterben. Anderen ergeht es ähnlich. 

Was tun? Schliesslich möchte ich Menschen nicht in Aufruhr versetzen. Also beginne ich, meine Gegenüber gleich am Anfang der Anrufe zu fragen: «Hast du gerade Zeit für mich?» oder «Sitzt du?». So nehme ich voraus, dass etwas «Ernsthaftes» folgt. Danach berichte ich direkt von meiner Diagnose und Prognose. Doch der Schock bleibt weiterhin. Einige stammeln verzweifelt, dass sie nicht wüssten, was sie dazu sagen sollen. Diese Reaktion gefällt mir, weil sie echt ist. Im Grunde muss man dazu gar nichts Spezielles sagen. Ich jedenfalls erwarte keinen Trost, schliesslich geht es mir gut – trotz meiner Krankheit. Am liebsten ist mir, wenn ich einfach erzählen darf, wie es mir geht, was bei mir momentan geschieht. Wenn man mich dort abholt, wo ich stehe und da und dort nachfragt. Denn wer gut zuhört, signalisiert sein Interesse. Und Fragen sind hilfreich. Sie halten mich dazu an, eine neue Perspektive einzunehmen, meine Situation noch tiefer auszuloten.

Eine weitere Variante ist ein kurzes und knackiges Mail:

Guten Morgen liebe xy 
Wie geht es Dir? Bei mir gibt es grad einige Herausforderungen, von denen ich dir gerne persönlich erzählen möchte. Ruf mich doch bitte an, wenn du Zeit und Lust hast.

Alles Liebi
Michèle

Mit diesen Zeilen lassen sich Menschen in mein Leben zurückholen, die ich jahrelang nicht mehr gesehen habe, die mir aber wichtig sind. Wir alle sind mit Projekten und Lebensfragen engagiert, sodass Zeit und Energie manchmal zu knapp sind, Beziehungen gebührend zu pflegen. Bei mir war das nicht anders. Wie oft siegte die Arbeit über Freundschaften. Das irritierte auch aktuell manche meiner loseren Freundinnen und Freunde, sie fühlten sich vernachlässigt. Zurecht. Rückblickend muss ich sagen, ich war ihnen nicht immer eine «gute» Freundin – obwohl ich mich immer voll auf Menschen eingelassen habe, denen ich in meinem Leben begegnet bin. 

Nun ist es höchste Zeit, für ein letztes Wiedersehen.


Aktuell tourt die Basler Psychologin durch die Schweiz und liest in diversen Städten aus ihrer Autobiografie. Eine Übersicht ihrer Auftritte finden Sie unter psyche-staerken.ch/autobiografie

Mehr über Ihr Buch «Volle Pulle leben – Lebe Deins, jetzt», in dem Michèle Bowley über Ihr Leben und Sterben schreibt, finden Sie hier.

Beitrag vom 10.04.2023

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