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«Jackie» von Scott Walker Songs und ihre Geschichten

Berühmt wurde Scott Walker in den 1960er-Jahren als glamouröser Sänger der Walker Brothers («The sun ain’t gonna shine anymore», «Make it easy on yourself»). Im Verlauf seiner Karriere entwickelte sich der amerikanische Sänger, Songschreiber, Komponist und Produzent vom Popstar zum experimentellen Einzelgänger.

Text: Urs Musfeld

Während bei der «British Invasion» britische Bands nach Beatles-Vorbild in den USA Erfolge feiern, gibt es auch die umgekehrte Variante. 1965 reist das amerikanische Trio Walker Brothers nach London. Die drei sind weder Brüder, noch heissen sie Walker. 

Mit der von Burt Bacharach und Hal David geschriebenen Lied «Make it easy on yourself», ein üppig orchestriertes Epos über romantischen Verlust und Sehnsucht, landen sie im gleichen Jahr auf Platz eins der UK-Charts. Auch die Single «The sun ain’t gonna shine anymore» schafft es 1966 an die Spitze der britischen Charts und wird zu einem Welthit. Eine weitere Odysee des Herzschmerzes, getragen von Scott Walkers melancholischem Bariton, begleitet von schwungvollen Gesangsharmonien und umschlossen von einer betäubend schwelgerischen Wall of Sound.

https://www.youtube.com/watch?v=cr-ExoAmPns

Für eine kurze Zeit geniessen die Walker Brothers eine ähnlich hysterische Popularität wie die Beatles.

Mit seiner Rolle als Teenie-Idol hadert Scott Walker allerdings schon damals. Auch die Angst vor musikalischer Stagnation und Wiederholung mag 1967 ein Grund für seinen Ausstieg aus der Band gewesen sein.

Neue musikalische Richtung

Der 1943 als Noel Scott Engel in Hamilton, Ohio geborene und in L.A. aufgewachsene Scott Walker bleibt in England und beginnt eine Solokarriere, die von zahlreichen Stilwechseln geprägt ist. Seine ersten vier Alben «Scott» (1967), «Scott 2» (1968), «Scott 3» (1969) und «Scott 4» (1969), die stark von Brel inspiriert sind, zeigen Walkers wachsende Experimentierfreudigkeit in Bezug auf Orchestrierung und Arrangement sowie seine Liebe zu poetischen Texten.

Scott Walker covert insgesamt neun Kompositionen von Jacques Brel. Er nutzt diese Lieder, um seine Karriere völlig umzukrempeln und eine geheimnisvolle, faszinierende neue musikalische Richtung einzuschlagen. Durch ihn lernt Walker, das romantische Drama mit der schmutzigen Realität des Lebens zu verbinden.

Gleichzeitig macht er das Werk des belgischen Chansonniers einem grösseren englischsprachigen Publikum zugänglich.

Auf «Scott 2» finden sich die beiden Brel-Nummern «Next» («Au suivant») und «Jackie» («La chanson de Jacky»), einer der herausragenden Titel in Scotts Discographie, der vorab auch als Single veröffentlicht wird.

Der französische Originaltext von «Jackie» wird vom amerikanischen Singer/Songwriter Mort Shuman ins Englische übersetzt – nicht wortwörtlich, aber vom Kern her gleich. Eine surreale, humorvolle Geschichte aus ausschweifender Fantasie, Erinnerung und Traurigkeit. Eine Erzählung in der ersten Person: Ein Sänger denkt darüber nach, wie sein Alter verlaufen könnte. Bei Brel beginnt sie in der belgischen Küstenstadt Knokke-Le-Zoute, bei Shuman irgendwo in England.

And if one day I should become
A singer with a Spanish bum
Who sings for women of great virtue
I′d sing to them with a guitar
I borrowed from a coffee bar
Well, what you don’t know doesn′t hurt you

Und wenn ich eines Tages (ein Sänger werden sollte)
Ein Sänger mit einem spanischen Hintern werden sollte
Der für reife Frauen (von großer Tugend) singt
Würde ich ihnen mit einer Gitarre vorsingen
Die ich aus einer Kaffeebar geliehen habe
Nun, was du nicht weisst, tut dir nicht weh

«spanisch bum», das sich auf «become» reimt, meint hier nicht «spanischer Penner», sondern eher den wohlgeformten Hintern eines spanischen Matadors.

My name would be Antonio
And all my bridges I would burn
And when I gave them some they’d know
I’d expect something in return
I′d have to get drunk every night
And talk about virility
With some old grandmother
Who might be decked out like a christmas tree
And though pink elephants I′d see
Though I’d be drunk as I could be
Still I would sing my song to me
About the time they called me 
«Jackie»

Mein Name wäre Antonio 
Und alle meine Brücken würde ich abbrechen
Und wenn ich ihnen etwas geben würde, wüssten sie
Ich würde etwas im Gegenzug erwarten
Ich würde mich jede Nacht betrinken müssen
Und über Männlichkeit reden
Mit irgendeiner alten Grossmutter
Die vielleicht geschmückt ist wie ein Weihnachtsbaum
Und obwohl ich rosa Elefanten sehen würde
Obwohl ich betrunken wäre, wie ich nur kann (wie es nur geht)
Würde ich immer noch mein Lied für mich singen
Über die Zeit, als sie mich «Jackie» nannten

Seine Potenz ist längst erloschen, aber immer noch ist er in der Erinnerung gefangen, was er einmal gewesen ist.

If I could be for only an hour
If I could be for an hour every day
If I could be for just one little hour
A cute, cute in a stupid ass way

Wenn ich nur eine Stunde lang sein könnte
Wenn ich jeden Tag eine Stunde lang sein könnte
Wenn ich nur für eine kleine Stunde sein könnte
Süss, süss auf eine bescheuerte Art 

Und bei all den Ausschweifungen geht es darum, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben – sei es auch nur für kurze Zeit. 

And if I joined the social whirl
Became procurer of young girls
Then I would have my own bordellos
My record would be number one
And I′d sell records by the ton
All sung by many other fellows

Und wenn ich mich dem gesellschaftlichen Vergnügen anschliessen würde
Zu einem Zuhälter von jungen Mädchen würde
Dann würde ich meine eigenen Bordelle haben
Meine Platte wäre die Nummer eins
Und ich würde tonnenweise Platten verkaufen
Alle gesungen von vielen anderen Kerlen

My name would then be handsome Jack
And I’d sell boats of opium
Whisky that came from Twickenham
Authentic queers
And phony virgins
If I had banks on every finger
A finger in every country
And every country ruled by me
I′d still know where I’d want to be

Jack träumt von den Freuden, die mit Ruhm und Reichtum einhergehen. Er weiss aber, dass egal wie erfolgreich er wird, er immer an sein früheres Leben denken wird, als er noch nicht berühmt war.

Mein Name wäre dann der hübsche Jack
Und ich würde Boote mit Opium verkaufen
Whisky, der aus Twickenham kam
Echte Schwule
Und unechte Jungfrauen
Wenn ich Banken an jedem Finger hätte
Einen Finger in jedem Land
Und jedes Land von mir regiert
Ich würde immer noch wissen, wo ich sein möchte

Twickenham ist ein Vorort von London, berühmt für sein Rugby-Stadion. Es gibt dort allerdings keine Whisky-Brennereien.

Locked up inside my opium den
Surrounded by some china men
I′d sing the song that I sang then
About the time they called me 
«Jackie»

Eingesperrt in meiner Opiumhöhle
Umgeben von einigen Chinesen
Würde ich das Lied singen, das ich damals gesungen habe
Über die Zeit, als sie mich «Jackie» nannten

Now, tell me, wouldn’t it be nice
That if one day in paradise
I’d sing for all the ladies up there
And they would sing along with me
And we be so happy there to be
′Cause down below is really nowhere

Nun sag mir, wäre es nicht schön
Wenn ich eines Tages im Paradies
Für all die Damen dort oben singen würde
Und sie würden mit mir singen
Und wir wären so glücklich dort zu sein
Denn da unten ist wirklich nirgendwo

My name would then be Junipher
Then I would know where I was going
And then I would become all knowing
My beard so very long and flowing
If I became deaf, dumb and blind
Because I pitied all mankind
And broke my heart to make things right
I know that every single night
When my angelic work was through
The angels and the Devil too
Would sing my childhood song to me
About the time they called me 
«Jackie»

Mein Name wäre dann Junipher 
Dann würde ich wissen, wohin ich gehe
Und dann würde ich allwissend werden
Mein Bart so lang und wallend
Wenn ich taub, stumm und blind würde
Weil ich die ganze Menschheit bemitleidet habe
Und mein Herz brach, um die Dinge richtig zu machen
Ich weiss, dass jede einzelne Nacht
Wenn meine Engelsarbeit vorbei war
Die Engel und auch der Teufel
Mein Kindheitslied für mich singen würden
Über die Zeit, als sie mich «Jackie» nannten

Die Dramatik des Songs grenzt ständig an Übertreibung. Es beginnt explosiv, es ist ein klangliches Statement. Walker verkauft die Geschichte mit seiner charakteristischen, souveränen Stimme und unterläuft sie immer wieder mit einem wissenden Augenzwinkern.

Hört man Scott Walker zu, lernt man etwas über Phrasierung, Atemkontrolle, über Dynamik, über das Transportieren. Jedem Wort Sinn und Charakter zu verleihen, egal wie bedeutend das Thema auch sein mag.

Die Aura der ungezügelten Lust – v.a. die Zeile «echte Schwule und unechte Jungfrauen» – wird von der BBC als unmoralisch genug angesehen, um ein Ausstrahlungsverbot zu rechtfertigen. Im selben Jahr (1967), in dem «Jackie» aus dem Rundfunk verbannt wird, tritt in England und Wales der Sexual Offence Act in Kraft, der private sexuelle Handlungen zwischen einwilligenden Männern über 21 Jahren legalisiert. Trotz der gesetzlichen Änderungen zögern Institutionen wie die BBC nach wie vor, Anspielungen auf Homosexualität auf ihren Sendern zuzulassen.

Scott Walkers Solokarriere ist weiterhin geprägt von künstlerischer Innovation. Seine insgesamt 18 Alben (16 Solo-, 2 Soundtrackalben) zeichnen sich aus durch ihre Komplexität und emotionale Tiefe. Sie haben eine Nische geschaffen, in der die Grenzen zwischen populärer Musik und Avantgarde verschwinden. Walkers genreübergreifender Sound, sein spezieller Ansatz beim Songwriting und sein eindringlicher Bariton haben unzählige Musiker beeinflusst – von David Bowie und Marc Almond bis zu Nick Cave und Jarvis Cocker.

Walker stirbt 2019 im Alter von 76 Jahren an einem Krebsleiden.


Urs Musfeld alias Musi

Portrait von Urs Musfeld

© Claudia Herzog

Urs Musfeld alias MUSI, Jahrgang 1952, war während 39 Jahren Musikredaktor bei Schweizer Radio SRF (DRS 2, DRS 3, DRS Virus und SRF 3) und dabei hauptsächlich für die Sendung «Sounds!» verantwortlich. Seine Neugier für Musik ausserhalb des Mainstreams ist auch nach Beendigung der Radio-Laufbahn nicht nur Beruf, sondern Berufung.

Auf seiner Website «MUSI-C» gibt’s wöchentlich Musik entdecken ohne Scheuklappen zu entdecken: https://www.musi-c.ch/

Beitrag vom 27.04.2024

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