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«O, Superman» von Laurie Anderson Songs und ihre Geschichten

Laurie Anderson, die amerikanische Multimedia-Pionierin, hat das einzigartige Talent, Performance, Text, Theater, Film, Musik, Bildende Kunst und neue Medien zu einem homogenen Ganzen zu verschmelzen. Weltweit bekannt wurde ihre Stimme 1981 durch ihr Lied «O Superman».

Text: Urs Musfeld

Mit Strategien der Selbstinszenierung und Autobiografie, verbunden mit technischer Innovation und der Entwicklung eigener Klangkörper und Sprachprogramme, zählt Laurie Anderson nach wie vor zu einer künstlerischen Avantgarde, die Themen von Identität, Politik und Gesellschaft kritisch hinterfragt und in neue Kontexte transferiert.

Geboren 1947 nahe Chicago spielt Laurie Anderson bereits als Kind Violinkonzerte. Nach einem Musikstudium in Kalifornien zieht sie in den 1970er-Jahren nach New York und absolviert mit Bravour ein Studium der Kunstgeschichte und der Bildenden Künste. Sie arbeitet zunächst vor allem mit Bildhauern, Malern und Musikern (Philip Glass, John Cage), bevor sie selbst künstlerisch experimentiert.

Die bekannteste Performance aus dieser Phase ist «Duets on Ice». Mit präparierter Violine – von Tonbandschleifen begleitet – steht Anderson dabei im Freien, trägt in einen Eisblock eingefrorene Rollschuhe. Dabei spielt sie Stücke von Tschaikowskij und rezitiert eigene Texte, bis das Eis geschmolzen ist.

1975 erfindet Laurie Anderson den Viofonografen, eine Fusion aus Schallplatte und Violinie, durch die ein Ton über einen elektrischen Verstärker hörbar gemacht wird.

Überraschender Erfolg

Der Wendepunkt in Andersons Karriere ist ihr Song «O Superman» aus dem Jahr 1981, ursprünglich nur eine weitere in einer lockeren Folge von Singles, die sie im Laufe der Jahre auf kleinen Plattenlabes veröffentlicht hat. «Ich war ein Performance-Künstler ohne Interesse an der Popwelt, aber Freunde überredeten mich, eine Single zu machen, die zunächst im Versandhandel erhältlich war. Wir haben 1000 Exemplare gepresst und ich habe jedes einzeln verpackt und verschickt».

Zu ihrer eigenen Überraschung landet das Lied trotz seiner über acht Minuten Länge auf Platz 2 der britischen Pop-Charts, nachdem es der legendäre englische DJ John Peel in seiner Radiosendung auf BBC regelmässig gespielt hat.

«O Superman (For Massenet)», so der vollständige Titel, greift zurück auf die Arie «O Souverain» aus der Oper «Le Cid» des französischen Komponisten Jules Massenet aus dem Jahr 1885: «O souverain/ o juge/ o père» (Oh Herrscher/ Oh Richter/ Oh Vater»), ein Gebet an die Obrigkeit.  Bei Anderson wird es zum Appell an alle höheren Mächte, gipfelt aber in der ursprünglichsten Autorität – bei unseren Eltern.

O Superman 
O judge 
O Mom and Dad 
Mom and Dad 

Oh Superman
Oh Richter
Oh Mama und Papa
Mama und Papa

Während sich eine komplizierte Erzählung entfaltet, untermalt Anderson sie nur mit spärlichen Noten und roboterhaftem Gesang und erklärt, dass sie «düstere und alltägliche Bilder nebeneinander stellt».

Die Stimme wird durch einen Vocoder gesprochen, um einen verzerrten Klang zu kreieren.
Der Vocoder, eines ihrer Lieblingsinstrumente, ist ursprünglich ein Codiergerät aus dem Zweiten Weltkrieg, entwickelt mit dem Ziel, Sprache verschlüsselt und mit geringerer Datenrate elektronisch zu übermitteln.

Technologie und Kommunikation spielen überhaupt eine wichtige Rolle – hier am Beispiel der typischen Anrufbeantworterphrase:

Hi, I’m not home right now 
But if you want to leave a message
Just start talking at the sound of the tone

Hi, Ich bin gerade nicht zu Hause
Aber wenn du eine Nachricht hinterlassen willst
Fang einfach nach dem Ton an zu reden

Hello? This is your mother
Are you there? 
Are you coming home? 

Hallo? Hier ist deine Mutter
Bist du da?
Kommst du nach Hause?

Hello, is anybody home? 
Well, you don’t know me, but I know you 
And I’ve got a message to give to you

Hallo? Ist jemand zu Hause?
Nun, du kennst mich nicht, aber ich kenne dich
Und ich habe eine Nachricht für dich

Geschrieben hat Laurie Anderson «O Superman» mit Blick auf die iranische Geiselkrise 1979.
Ajatollah-treue Studenten stürmen die US-Botschaft in Teheran. 52 Diplomaten werden mehr als ein Jahr lang vom Iran festgehalten. Der Song steht in direktem Zusammenhang mit der Operation Eagle Claw, einer gescheiterten militärischen Rettungsaktion, bei der ein Flugzeug und ein Hubschrauber in der Wüste abstürzen und acht US-Soldaten sterben.

Für Anderson zeigt die Katastrophe, dass der amerikanische militärisch-industrielle Superman nicht unbesiegbar ist und dass die im Lied erwähnte Automatisierung und Elektronik nicht immer siegen werden.

Here come the planes. 
So you better get ready, ready to go
You can come as you are, but pay as you go 
Pay as you go 

Hier kommen die Flugzeuge
Also mach dich besser fertig
Fertig zum Losgehen
Du kannst kommen, wie du bist, aber bezahl, wenn du rausgehst
Bezahl, wenn du rausgehst

Wird der Preis, den wir zahlen werden, in Geld oder in Opfern gemessen? Die Botschaft ist so zweideutig wie ein Traum, und das ist bei Andersons Musik meistens der Fall.

And I said: «Ok, who is this really?»
And the voice said: 
«This is the hand, the hand that takes. 
This is the hand, the hand that takes. 
This is the hand, the hand that takes»

Und ich sagte: «Ok. Wer ist da eigentlich?»
Und die Stimme sagte:
«Dies ist die Hand, die Hand, die nimmt
Dies ist die Hand, die Hand, die nimmt
Dies ist die Hand, die Hand, die nimmt»

Es ist nicht die fröhliche Stimme der Mutter auf dem Anrufbeantworter. Es ist ein Konstrukt, etwas aus einem Science-Fiction-Film. Es sieht zwar menschlich aus, ist aber unheimlich.

Es folgt eine Meditation über die verpfuschte Rettung der amerikanischen Geiseln.
Here come the planes. 
They’re American planes 
Made in America 
Smoking or non-smoking? 

Hier kommen die Flugzeuge
Es sind amerikanische Flugzeuge
Gebaut in Amerika
Raucher oder Nichtraucher?

And the voice said: «Neither snow nor rain 
Nor gloom of night shall stay these couriers 
From the swift completion of their appointed rounds»

Und die Stimme sagte: «Weder Schnee noch Regen 
Noch Dunkelheit der Nacht werden diese Kuriere
Von der raschen Erledigung ihrer zugedachten Aufgaben abhalten»


Zitiert wird der Slogan der US-Post, ursprünglich eine Beschreibung der berittenen Kuriere des kaiserlichen Persiens, dem Vorläufer des neuen Feindes.

‹Cause when love is gone, there’s always justice
And when justice is gone, there’s always force
And when force is gone, there’s always Mom
Hi Mom! 

Denn wenn die Liebe verschwunden ist
Ist da immer noch Gerechtigkeit
Und wenn die Gerechtigkeit verschwunden ist
Ist da immer noch Gewalt
Und wenn die Gewalt verschwunden ist
Ist da immer noch Mama
Hi Mama!

Aber auch die Liebe zu Mama bringt keine wirkliche Rettung.

Die Arme der Mutter werden nicht als weich und warm beschrieben, sondern als «automatisch», «elektronisch», «militärisch» und «petrochemisch», was eine beklemmende Verquickung von angeborenen, menschlichen Verbindungen und den harten künstlichen, technologischen Bedingungen der Moderne schafft.

So hold me, Mom, in your long arms 
So hold me, Mom, in your long arms 
In your automatic arms 
Your electronic arms
In your arms

Also halt mich fest, Mama, in deinen langen Armen
Also halt mich fest, Mama, in deinen langen Armen
In deinen automatischen Armen
Deinen elektronischen Armen
In deinen Armen

So hold me, Mom, in your long arms 
Your petrochemical arms 
Your military arms 
In your electronic arms

Also halt mich fest, Mama, in deinen langen Armen
Deinen petrochemischen Armen
Deinen militärischen Armen
In Deinen elektronischen Armen

«O Superman», das halb gesprochene, halb gesungene Epos, ist nicht wirklich ein Popsong, eher ein verzweifeltes Plädoyer für Trost und Schutz. 

Mit diesem Lied, Teil auch des folgenden, bahnbrechenden Debutalbums «Big Science» (1982), hat Anderson die allgemeine Aufmerksamkeit nachhaltig auf sich gezogen. Es ist aber nur ein kleiner Ausschnitt aus ihrem umfangreichen und nicht nur musikalischen Werk. Es reicht von der kritischen Betrachtung der amerikanischen Gesellschaft («United States Live», 1983), über «Songs And Stories For Moby Dick» (1999) bis hin zum Album «Landfall» (2018), das sie gemeinsam mit dem Kronos Quartet produziert und eingespielt hat. Am 30. August erscheint ihr achtes Studio-Album «Amelia».

Urs Musfeld alias Musi

Portrait von Urs Musfeld

© Claudia Herzog

Urs Musfeld alias MUSI, Jahrgang 1952, war während 39 Jahren Musikredaktor bei Schweizer Radio SRF (DRS 2, DRS 3, DRS Virus und SRF 3) und dabei hauptsächlich für die Sendung «Sounds!» verantwortlich. Seine Neugier für Musik ausserhalb des Mainstreams ist auch nach Beendigung der Radio-Laufbahn nicht nur Beruf, sondern Berufung.

Auf seiner Website «MUSI-C» gibt’s wöchentlich Musik entdecken ohne Scheuklappen zu entdecken: https://www.musi-c.ch/

Beitrag vom 17.07.2024

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