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«Il est cinq heures, Paris s’éveille» von Jacques Dutronc Songs und ihre Geschichten

Seine Lieder mit parodierender und ironischer Distanz waren erste authentische französische Rocksongs und brachen mit der traditionellen frankophonen Chanson-Kultur. Gleich mit seinem ersten selbst gesungenen Song «Et moi, et moi, et moi» stieg Jacques Dutronc 1966 zum Superstar seines Landes auf. Mit einer Mischung aus Charme, Coolness und Schüchternheit begeisterte er sein Publikum und wurde vom Teenie-Idol zum Grandseigneur des Pop.

Text: Urs Musfeld

Geboren 1943 in Paris beginnt Dutronc nach der Schule ein Studium an der École nationale supérieure des arts décoratif. Nebenbei spielt er Gitarre in verschiedenen Bands. Mit El Toro et Les Cyclones erhält er 1961 einen Vertrag bei der Plattenfirma Vogue und veröffentlicht ein paar unspektakuläre EPs. Erfolgreicher ist ein Instrumentalstück («Méfie-toi»), das er für seine Labelkollegen Les Fantômes schreibt und das 1962, mit einem zusätzlichen Text versehen, zu «Le temps de l’amour», einem Hit von Françoise Hardy wird. 

Nach seinem Militärdienst bietet die Plattenfirma Jacques Dutronc die Rolle des Co-Art Directors an. Zu diesem Zeitpunkt beginnt die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Jacques Lanzmann, der die Texte seiner Lieder schreibt. Er findet Worte, die mit Dutroncs Persönlichkeit übereinstimmen. In ihren frühen Songs verpacken die beiden Ironie, Sarkasmus und eine Prise Nihilismus. 

Ihr erster gemeinsamer Titel ist «Et moi, et moi, et moi» (1966). Der bissige Text und die vom angelsächsischen Rock beeinflusste Musik heben sich von den netten Chansons des Varietés ab: 

«Sept cents millions de petits Chinois/ Et moi, et moi, et moi/ Huit cent millions de crève-la-faim/…J’y pense y puis j’oublie/ C’est la vie, c’est la vie».

«Siebenhundert Millionen kleine Chinesen/ und ich, und ich, und ich/ Achthundert Millionen Hungerleider/… Ich denke daran und dann vergesse ich es/ So ist das Leben, so ist das Leben…»

Ein Lied voller kultureller und historischer Referenzen auf jene Zeit. Mit «Les Playboys», «Les Cactus» oder «J’aime les filles» landet Jacques Dutronc weitere Hits.

Im März 1968, zwei Monate bevor die Jugend Frankreichs politisch erwacht, erscheint «Il est cinq heures, Paris s’éveille», durch das er über Frankreich hinaus bekannt wird.

Der von Jacques Lanzmann und seiner Lebensgefährtin Anne Segalen geschriebene Text basiert auf einem Gedicht von Marc Antoine Désaugiers aus dem Jahr 1802: «Tout Paris s’éveille, allons nous coucher» («Ganz Paris erwacht, gehen wir schlafen»)

Auf der musikalischen Seite entscheidet sich Dutronc für eine sehr einfache Harmonie, ein paar Akkorde und einen eingängigen und pumpenden Rhythmus – wie ein leicht beschleunigtes George Brassens-Chanson. Und er vermeidet ein Klischee: Das Akkordeon. Dagegen hört man ein typisches Instrument der lateinamerikanischen Volksmusik: Die Maracas.

Zum Erfolg von «Il est cinq heures, Paris s’éveille» trägt massgeblich auch die Querflötenimprovisation des klassischen Musikers Roger Bourdin bei, der zufällig im gleichen Studio aufnimmt. Sein Beitrag verleiht Dutroncs fast gesprochener, monotoner Stimme und seinem Arrangement aus Gitarre, Bass und Marcaras eine zusätzliche, prägende Note.

Je suis le dauphin de la place Dauphine
Et la place Blanche a mauvaise mine
Les camions sont pleins de lait
Les balayeurs sont pleins de balais

Ich bin der Kronprinz der Place Dauphine
Und die Place Blanche sieht schlecht aus
Die Lastwagen sind mit Milch beladen
Die Strassenwischer sind alle mit Besen unterwegs

Il est cinq heures
Paris s’éveille

Es ist fünf Uhr
Paris erwacht

Les travestis vont se raser
Les strip-teaseuses sont rhabillées
Les traversins sont écrasés
Les amoureux sont fatigues

Die Transvestiten gehen sich rasieren
Die Striptease-Tänzerinnen sind wieder angezogen
Die Nackenkissen sind zerdrückt
Die Liebespaare sind erschöpft

Die Strophen beschreiben verschiedene Szenen und Aktivitäten, die stattfinden, während die Stadt allmählich erwacht.

Le café est dans les tasses
Les cafés nettoient leurs glaces
Et sur le boulevard Montparnasse
La gare n’est plus qu’une carcasse

Der Kaffee ist in den Tassen
Die Cafés putzen ihre Spiegel
Und auf dem Boulevard Montparnasse
Ist der Bahnhof nur noch ein Gerüst

Denkmäler, die oft mit Grösse und Geschichte verbunden sind, werden als Lebewesen mit Gefühlen und Eigenschaften dargestellt.

La Tour Eiffel a froid aux pieds
L’Arc de Triomphe est ranimé
Et l’Obélisque est bien dressé
Entre la nuit et la journée

Der Eiffelturm hat kalte Füsse
Der Arc de Triomphe ist wiederbelebt
Und der Obelisk steht aufgerichtet
Zwischen Nacht und Tag

Die anschliessenden Zeilen unterstreichen den Kontrast zwischen den verschiedenen Quartieren der Stadt und den Tätigkeiten, die dort stattfinden.

Les banlieusards sont dans les gares
À la Villette, on tranche le lard
Paris by night, regagne les cars
Les boulangers font des bâtards

Die Pendler sind in den Bahnhöfen
In La Villette schneidet man den Speck
Nachtschwärmer kehren zu den Bussen zurück
Die Bäcker machen Mischbrote

Les journaux sont imprimés
Les ouvriers sont déprimés
Les gens se lèvent, ils sont brimés
C’est l’heure où je vais me coucher

Die Zeitungen sind gedruckt
Die Arbeiter sind deprimiert
Die Leute stehen auf, sie werden schikaniert
Das ist die Stunde, wo ich mich schlafen lege

Il est cinq heures
Paris s’éveille
Il est cinq heures
Je n’ai pas sommeil

Es ist fünf Uhr
Paris erwacht
Es ist fünf Uhr
Ich bin nicht müde

«Il est cinq heures, Paris s’éveille» gilt als einer der populärsten französischsprachigen Lieder. Im Zuge der Studentenproteste im Mai 1968 wird es mit verändertem Text quasi zu einer inoffiziellen Hymne.

In den folgenden Jahren setzt er seine musikalische Karriere fort. 2003 veröffentlicht er sein letztes eigenes Album und macht sich seitdem rar. 2014 trifft er jedoch seine alten Weggefährten Johnny Hallyday und Eddy Mitchell auf der Bühne bei der Tournee Les Vieilles Canailles, die 2017 wiederholt wird.

Jacques Dutronc ist – neben Yves Montand – einer der wenigen Stars in Frankreich, die ab den 1960er-Jahren sowohl in der Musik als auch im Kino grosse Erfolge feiern. Für seine Hauptrolle in «Van Gogh» von Maurice Pialat erhält Dutronc 1992 den wichtigsten französischen Filmpreisden César.

1981 heiratet er Françoise Hardy, vierzehn Jahre nach dem Beginn ihrer Beziehung. 1987 erfolgt die Trennung. Scheiden lassen haben sie sich aber nie und bleiben weiterhin verbunden. Dutronc lebt auf Korsika, Hardy in Paris. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Sohn, dem Jazzmusiker Thomas Dutronc, nimmt er 2022 das Album «Dutronc & Dutronc» auf und geht mit ihm im gleichen Jahr auf eine Konzertreise.


Urs Musfeld alias Musi

Portrait von Urs Musfeld

© Claudia Herzog

Urs Musfeld alias MUSI, Jahrgang 1952, war während 39 Jahren Musikredaktor bei Schweizer Radio SRF (DRS 2, DRS 3, DRS Virus und SRF 3) und dabei hauptsächlich für die Sendung «Sounds!» verantwortlich. Seine Neugier für Musik ausserhalb des Mainstreams ist auch nach Beendigung der Radio-Laufbahn nicht nur Beruf, sondern Berufung.

Auf seiner Website «MUSI-C» gibt’s wöchentlich Musik entdecken ohne Scheuklappen zu entdecken: https://www.musi-c.ch/

Beitrag vom 24.02.2024

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