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Wanderer auf dem Heimweg (Kapitel 8.1) Aus «Schneesturm im Sommer»

Ein alter Herr ging durch die Halle des Parkhotels, nickte dem Sekretär zu, der ihn, mit Gästen beschäftigt, über die Schranke hinweg zerstreut grüsste, und öffnete im Hintergrund die Tür zum Büro. Ein heftiger Wortwechsel schlug ihm entgegen. «Entschuldigung!», sagte er und wollte sich zurückziehen, wurde aber von einer Frau dringend aufgefordert, einzutreten.

«Eduard», rief die Frau, «komm herein! Vielleicht kannst du uns sagen, wo der Senior ist.»

Der Herr trat ein, begrüsste die Frau, die er Hermine nannte, und den Hoteldirektor Marcel Leuenberger, setzte sich gelassen und sagte, mit einer Handbewegung gegen die beiden, die einander uneinig gegenüber standen: «Genau das hätt’ ich gern von euch erfahren.»

«Da haben wir’s!» warf die Frau hin. «Es weiss wieder einmal niemand, wo er ist.»

«Hm, hier sollte es doch endlich auch ohne ihn gehen.»

«Es geht aber nicht, bitte sehr. Wenn ich etwas anordne und Marcel es rückgängig macht, so geht’s eben nicht. Ein Reisebüro lässt anfragen, ob wir heut’ Abend für eine holländische Reisegesellschaft vierzig Betten frei haben und vierzig Diners servieren können. Ich sage zu; jetzt kommt Marcel und will die Zusage widerrufen. Eine Sauerei ist das. Der Senior kann meinetwegen entscheiden, wie er will, und alle sauf seinen Buckel nehmen, aber von Marcel lasse ich mir das nicht gefallen.»

Hermine hatte als junge Hotelsekretärin den viel älteren Jakob Leuenberger geliebt und geheiratet, den früh verwitweten Besitzer des Parkhotels, den sie nur unter vier Augen Jakob, sonst aber Senior nannte, und seither, seit bald zwanzig Jahren, rastlos mit ihm zusammengearbeitet. Sie war eine kräftig gebaute, unauffällig gepflegte Frau von guter Form und Haltung, eine klar denkende, energisch ordnende, in Streitfällen rau dreinfahrende Geschäftsfrau, die nicht die geringste Lust hatte, abzutreten und das Feld ihrem Stiefsohn Marcel zu überlassen.

Marcel, Leuenberger junior, der Sohn ihres Mannes auserster Ehe, stand auf der anderen Seite des Schreibtisches, das geöffnete Telefonbuch in den Händen, und holte mit beherrschter Wut zu einer überlegten Antwort aus. Er war einige Jahre älter als seine temperamentvolle Stiefmutter, einer fahrener, tadellos aussehender Hotelier, im Verkehr mit den Gästen von berufsmässiger Höflichkeit, den Angestellten gegenüber korrekt, unpersönlich, als Privatmann und Familienvater von Sorgen geplagt, mit denen er nicht fertig wurde. «Dieses Reisebüro gelangt nur an uns, wenn in gewissen bevorzugten Häusern irgendetwas nicht klappt», erwiderte er. «Dann muss gehetzt und überstürzt werden, alles im letztenA ugenblick. Wir haben es nicht nötig, darauf einzugehen. Wir haben auch gar keine vierzig Betten frei und müssten mindestens zehn Personen in der Dépendance unterbringen. Das gibt nur Scherereien und lohnt sich nicht. Überhaupt …wenn wir anfangen, uns mit Reisegesellschaften und billigen Arrangements abzugeben, werden wir die distinguiertere ausländische Kundschaft verlieren, abgesehen davon –»

«Unsinn!», unterbrach ihn die Frau. «Wir werden mit deiner ganzen distinguierten Kundschaft nicht mehr lang ein volles Haus haben. Der Ort hier ist zu einem Vorstadtquartier geworden, und das Parkhotel ist kein Kurhaus mehr …»

«… abgesehen davon, dass wir unserem Personal, vor allem unserer Küche, nicht immer wieder abends um neun oderz ehn Uhr noch vierzig, fünfzig Diners zumuten dürfen.» Der alte Herr, Eduard Kienast, Bankdirektor im Ruhestand, Freund des Seniors, sass da und hörte zu, dann bat er die Entzweiten, einen Augenblick Platz zu nehmen.

Frau Hermine setzte sich, Marcel blieb stehen.

«Mir scheint, euere Gründe sind erwägenswert», begann Kienast ruhig. «Ich kann sie aber nicht selber gegeneinander abwägen, das überlasse ich Jakob. Dagegen seh’ ich, dass die Kompetenzen hier offenbar nicht eindeutig genug festgelegt sind. Hier müsste doch endlich alles so eingespielt sein, dass ihr euch nicht zu streiten brauchtet. Ein Organisationsfehler. Ich werde mir erlauben, mit Jakob darüber zu reden.»

«Mein Vater ist ein gutmütiger alter Mann, der noch andere Fehler macht», erklärte Marcel.

«Jakob ist ein Hotelier von internationalem Ruf, soviel ich weiss …»

«Jawohl!», rief Hermine scharf. 

«Ich kenne ihn seit fünfzig Jahren und habe ihn natürlich oft aus den Augen verloren», fuhr Kienast fort, «aber ich hab’ ihm auch immer wieder zugesehen. Als du, Marcel, noch in der Fremde unter anderen Herren dientest, stand hier ein Hotel zweiten oder dritten Ranges, mit der entsprechenden Kundschaft. Jakob Leuenberger kam von London, aus einem erstklassigen Haus, sah sich die alte Bude hier an, pachtete sie und stellte neues Personal ein. Nach zwei Jahren erklärte er: ‹Das Hotel gehört jetzt mir und wird umgebaut. Machst du mit? Ich brauche Geld.› Ich besann mich keinen Augenblick, ich konnte mir vorstellen, was unter Jakob Leuenberger hier entstehen würde und auch wirklich entstanden ist, nicht ohne dich, Hermine …»

Marcel schickte sich mit einer ungeduldigen Handbewegung an, das Büro zu verlassen.

«Marcel, einen Augenblick noch!», bat Kienast. «Bleibt für diesmal bei der Zusage! Diese Reisegesellschaft wird euch nicht umbringen. Und nächstes Mal einigt ihr euch über solche Fragen, bevor sie entschieden sind.»

Marcel ging verstimmt und eilig hinaus.

«Eduard, was ist mit meinem Mann los?», fragte Hermine. «In der letzten Zeit ist er immer dann nicht da, wenn man ihn am nötigsten hätte. Manchmal fällt es ihm plötzlich ein, wegzufahren, aber warum und wohin er fährt, das sagt er mir nicht, und wenn ich ihn frage, scheint er selber es auch nicht zu wissen. Das ist doch sonderbar und gar nicht seine Art. Du bist so vertraut mit ihm wie sonst niemand. Du und Jakob,ihr habt euch beide immer so gut verstanden.»

«Wir sind alte Männer, Hermine, Siebziger. Es kann uns plötzlich einfallen, ein Buch zu lesen oder spazieren zu gehen, statt zu arbeiten.»

«Gut, ich bin vollständig einverstanden, dass er spazieren geht oder ausfährt, aber er soll mir doch sagen, wo und wie er im Notfall zu erreichen ist. Er kann mich doch nicht allein kutschieren lassen, wenn Marcel mir beständig in die Zügel fällt.»

Ein junger Mann oder Jüngling, der zur Familie gehören musste, da er nicht anklopfte, betrat das Büro, begrüsste leicht verlegen den alten Herrn, wandte sich rasch zur Frau und fragte leise: «Könnt’ ich für heut’ Abend Grosspapas Wagen haben?»

«Ruedi, von mir aus gern. Aber ich habe nicht allein darüber zu verfügen, das weisst du. Ausserdem ist dein Papa ja nicht einverstanden, dass du abends mit unserem Wagen ausfährst.»

«Er ist mit nichts einverstanden.»

«Du musst warten, bis Grosspapa da ist, und ihn fragen, tut mir leid, Ruedi.»

«Dem ist auch nicht mehr wohl in seiner Haut», sagte Frau Hermine, nachdem der junge Herr, Marcel Leuenbergers Sohn, gegangen war. «Er hat beim Studium Pech gehabt, das wirst du ja wissen. Marcel macht eine Geschichte daraus, als ob er selber in diesem Alter ein Genie gewesen wäre. Dann hat er in der Rekrutenschule einen Fuss gebrochen, ist zurückgestellt worden und sollte bald wieder einrücken, will aber nicht mehr. Nach meiner Meinung ist Marcel und auch sie, die Madame, an dieser ganzen verpfuschten Sache ebenso schuld wie er selber. Jetzt trägt der arme Kerl aus lauter Protest gegen seine lieben Eltern ungebügelte Röhrlihosen und eine schlampige Jacke, das wirst du bemerkt haben, und man muss noch froh sein, dass er sich nicht den Bart wachsen lässt.»

«Aber mit seiner Mutter soll er sich doch gut verstehen?»

«Ich weiss es nicht, ich weiss es nicht. Ich will auch gar nichts gegen Minna sagen, ich werde grün und gelb, wenn ich nur an sie denke.»

«Eine verzwickte Lage, Donnerwetter! Wie soll Jakob damit fertig werden, wenn er –»

«Jakob wird mit allem fertig, wenn er sich nur etwas mehr darum kümmern würde. Aber ausgerechnet jetzt macht er sich kostbar. Was ist mit ihm los?»

«Ich weiss es nicht, Hermine, ich weiss es so wenig wie du. Aber ich frage mich, offen gestanden, doch manchmal, ob er nicht allmählich an seinen Rücktritt denken sollte.»

«Und mich im Dreck hockenlassen?», rief die Frau, erregt vom Stuhl auffahrend. «Neben Marcel und seiner geschwollenen Gans, die vom Hotelwesen weniger versteht als ein Abwaschmädchen? Nachdem ich seit bald zwanzig Jahren neben Jakob mit Leib und Seele für dieses Haus, für Jakobs Parkhotel … danke schön!»

Hermine, reg dich nicht auf! Das ist mir jetzt nur ebenso eingefallen. Aber ich gebe zu, dass es für dich schwierig wäre ohne Jakob. Und er ist ja auch noch frisch und leistungsfähig, nur etwas magerer und bleicher.»

«Das kommt von diesem verfluchten Fasten. Professor Kummernage lhat ihm doch wieder Diät empfohlen und neue Medikamente verordnet. Ich weiss nicht recht, warum. Aber wenn ein Herzspezialist etwas finden will, so findet er es halt.»

«Mit dem Herzen lässt sich nicht spassen. Und Kummernagel ist eine Autorität. Aber der Befund ist ja gar nicht schlimm, soviel ich weiss. Herzbeschwerden, Arterienverkalkung und was damit zusammenhängt, wer hat das nicht in unserem Alter. Man kann neunzig werden damit. Und was Jakob an Gewicht verloren hat, das hat er an Beweglichkeit gewonnen.»

«Beweglichkeit? Keine Ruhe mehr hat er.»

«Hm … was sollte ihn beunruhigen? Vor Jahren klagte er mir einmal, seit er sesshaft geworden sei, werde er auch noch fett und faul. Er war ein sehr wanderlustiger Bursche. Wir haben zusammen halb Italien durchstreift. Und nachher …in Paris, Kairo, London traf man ihn immer eher als hier. Aber es war doch recht erfreulich, auch für ihn selber, als er nach seinem rastlosen Wanderleben hier endlich sesshaft wurde. Und nachdem er jetzt sein Übergewicht abgeworfen hat und sich wohl fühlt, ist eigentlich nicht einzusehen, warum er dich im Stich lassen sollte.»

«Also! Ich seh’ es jedenfalls nicht ein. Und darum versteh’ ich auch nicht, warum er manchmal so tut, als ob ihm das ganze Parkhotel gestohlen werden könnte. Oder verstehst du das vielleicht?»

«Hermine, es gibt auch zwischen guten Freunden manches, das man sich verschweigt. Ich habe Jakob nicht immer verstanden, aber auch dann hab’ ich geachtet, was er dachte und tat. Das ist heute noch so. Wir haben beide unsere Reservate und respektieren sie gegenseitig.»

«Ach herrjeh!»

«Wir Männer, nicht wahr? Und jetzt entschuldige bitte, ich habe dich aufgehalten. Du stehst mitten im Gefecht, und ich bin nur ein liederlicher Spaziergänger. Auf Wiedersehen!»

Jakob Leuenberger, der Senior, ein hochgewachsener, breitschulteriger Mann, stand in der Hotelhalle bei einem alten Gast, einer Französin, die lebhaft auf ihn einsprach; in höflicher Haltung leicht vorgebeugt, in der gesenkten Rechten Briefe und Zeitungen, die er vom Concierge entgegengenommen hatte, stand er da und hörte der schwatzhaften Dame so aufmerksam zu, als ob im Augenblick nichts wichtiger wäre. Dabei wusste er, dass man ihn dringend am Telefon erwartete.

Seine Frau Hermine schaute durch die offene Bürotür ungeduldig nach ihm aus, schüttelte verständnislos den Kopf und holte den Mann endlich unter Entschuldigungen von der Französin weg. «Viktor ist am Telefon», erklärte sie, «es handelt sich um ein Diner für fremde Industriemagnaten, ich hab’ ihm gesagt, dass wir Vorschläge machen werden, aber er will mit dir darüber reden. Bitte!»

Viktor war ein Schwiegersohn des Seniors Leuenberger, ein intelligenter, betriebsamer Mann aus Industriekreisen. «Ja, Viktor?», fragte Leuenberger und sagte ihm ungefähr dasselbe, was ihm seine Frau schon gesagt hatte.

Hermine öffnete indessen eine Todesanzeige, die an sie beide gerichtet war, stutzte befremdet und legte sie am Ende des Telefongespräches offen vor ihren Mann hin. Sie betrachtete ihn, während er sie las, sein grosses Gesicht, dem die frühere gesunde Fülle fehlte, den faltigen Hals, das zurückgebürstete graue Haargeflock an den Schläfen und die vorspringenden Brauen über den hellen, nachdenklich heiteren Augen.

«Höre, wie das tönt!», sagte er und las: «Gestern Abend ist unser lieber Vater, Grossvater, Bruder und Onkel Jakob Leuenberger nach einem inhaltsreichen Leben kurz vor seinem zweiundsiebzigsten Geburtstag friedlich zur ewigen Ruhe eingegangen. – Schön gesagt, nicht? Er ist ein entfernter Vetter, ein Leuenberger von Seewilen, wo ich vor vielen, vielen Jahren bei den Grosseltern in den Ferien war. Ich werde ein paar Zeilen schreiben und einen Kranz schicken.»

«Dass es ausser dir noch einen anderen Jakob Leuenberger gab, das hatte ich ganz vergessen», sagte sie und folgte ihm aus dem Direktionsbüro in einen anschliessenden kleinen Privatraum. «Aber wie ist das nun mit diesem Diner? Am besten würdest du es sofort mit dem Chef besprechen, er ist in der Küche.»

«Möchtest du das nicht übernehmen, Hermine?»

Zum Autor

Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.

«Danke schön, ich habe nicht im Sinn, mich von Marcel noch einmal belehren zu lassen, das ist mir zu dumm.»

«Ja, das war ungeschickt. Eduard Kienast meint, wir sollten die Verteilung der Departemente überprüfen. Ich sagte ihm, was in der Regel deine und was Marcels Sache sei. Aber warum solltet ihr in der Hauptsache nicht beide zuständig sein? Ich lasse euch freie Hand, und ihr könnt euch doch verständigen.»

«Marcel will sich nicht verständigen. Marcel will mich auf die Seite schieben, und dahinter steckt Minna, die ganz bestimmte Absichten hat. Aber das, Jakob, das lasse ich mir nicht gefallen, niemals, das sage ich dir.»

«Aber Hermine, das ist doch ganz ausgeschlossen. Dich auf die Seite schieben? Wie kommst du nur auf solche Gedanken?»

«Das spürt man, auch wenn man es nicht beweisen kann. Wenn du nicht da bist, macht Marcel, was er will, ohne mich zu fragen, aber von mir erwartet er das Gegenteil. Und du bist in der letzten Zeit so oft nicht da. Man hat den Eindruck, dass du hier nicht mehr richtig mitmachst, dass du … Jakob, wir haben so lange zusammengearbeitet, dass es mir unerträglich wäre, wenn du …» Sie packte mit beiden Händen seinen Arm und bat, flehte, forderte: «Du bleibst, versprich es mir! Ich würde verrückt, wenn ich hier alles ohne dich machen müsste. Und verdrängen lass’ ich mich nicht, niemals.»

«Hermine, beruhige dich! Ohne dein Einverständnis wird hier nichts geändert. Wenn ich mich weniger um nebensächliche Dinge kümmere, die auch ohne mich erledigt werden können, so musst du das verstehen. Eine Absicht steckt nicht dahinter.»

Jemand klopfte, das Bürofräulein kam herein und meldete, der Monteur frage nach Herrn Leuenberger. Der Monteur arbeitete in den notwendig gewordenen neuen Badezimmern .«Geh, bitte!», sagte Frau Hermine. «Und sie sollen doch nicht schon so früh am Morgen zu hämmern anfangen. In den oberen Etagen beschwert sich alles, das Ehepaar vom Hundertdreissig verlangt ein anderes Zimmer.»

Leuenberger wollte gehen, wurde aber von Ruedi aufgehalten, der am Bürofräulein vorbei eintrat und hoffnungsvoll fragte, ob er heut’ Abend den Wagen haben dürfte.

Der Grosspapa betrachtete seinen Enkel freundlich, bedachte sich einen Augenblick und sagte: «Gut, ja. Aber pass auf! Ich möchte lieber keine Polizeibussen mehr für dich bezahlen. Fahr nicht wie ein Schelm, parkiere richtig … und soweiter.»

Gleich darauf wurde Leuenberger in der Halle von seinem Kollegen Hofmann, einem Gast aus Hamburg, um eine Unterredung gebeten und versprach, mit ihm nächstens den Zeitpunkt dafür zu vereinbaren. Auf der Suche nach dem Monteur stiess er auf Marcel und bat ihn, mit Viktor, seinem Schwager, das Diner zu besprechen. Den Monteur traf er im obersten Stockwerk, liess sich von ihm die Notwendigkeit einer technischen Änderung erklären, gab seine Einwilligung und stieg, statt umzukehren, über eine kurze Treppe auf die Dachterrasse.

Dröhnender Lärm wie von Presslufthämmern, prasselndem Mauerwerk und rollenden Güterzügen drang aus der Stadt herauf, Fabriken und Bürohäuser standen mit nüchtern erhellten Fensterreihen in der Dämmerung, Rauch und Abgase beizten die Luft. Leuenberger stand mit gerümpfter Nase am Geländer und nickte lachend. «Tüchtig, tüchtig», dachte er. «Man darf zufrieden sein, die Stadt blüht, obwohl sie zum Himmel stinkt, einen Höllenlärm macht und nicht schön anzuschauen ist. Man hat sich mit Geld und Gut und Haut und Haar da hinein verwickelt, jetzt steckt man drin und gehört dazu. Aber wie kommt man wieder heraus?»

Das Zwielicht eines frühen Märzabends schwankte um die Dachterrasse, die Tageshelle verblasste kalt, dunstig, nur im Süden leuchteten über den nahen Wipfeln stehen gebliebener Parkbäume und dem fernen  fahlen Saum verschneiter Berge noch rötlich goldene Wolkenfische aus dem offenen Himmelsrand. Die wachsende Stadt hatte den ehemaligen Park schon fast verschlungen, von beleuchteten Bauplätzen reckten sich Krantürme in den Abendhimmel, Antennengerippe horchten gierig über die Dächer hinaus und trugen den Hausbewohnern auch den Lärm der entfernteren Welt an die Ohren. Gegen die Berge hin käme man irgendwo in einem abgelegenen Voralpental nach Seewilen. 

Es gab dort zwischen niederen Felsen und flachen Schilfufern einen kleinen See, einen See, der nicht zu den berühmten, häufig besuchten gehörte, aber einen vielbeschäftigten alten Mann daran erinnern konnte, dass er dort als Junge fischend und schwimmend wochenlang im Paradies gelebt hatte. Etwas weiter unten lag im Wiesengelände eine Gruppe ländliche rHäuser, die kein richtiges Dorf, aber doch einen Weiler bildeten und der Gegend ihren Namen gaben. Das dem See am nächsten gelegene Haus gehörte zum Heimwesen der Leuenberger und war das Bauernhaus, in dem ein Verwandter und Namensvetter des Parkhotelbesitzers friedlich zur ewigen Ruhe eingegangen war. 

Von diesem Hause führte ein schmaler Pfad durch die Wiese zum Seeflüeli, einer halbinselartig in den See vorspringenden Felsterrasse, die zu Leuenbergers Heimwesen gehörte, aber nichts abwarf und dem Vieh durch einen Lattenhag gesperrt war. Dort hatte der städtische, vom Studieren halb krank gewordene junge Leuenberger zwischen goldgelb blühenden Sträuchern und rosigen Erikabüschen den blauen Seespiegel und die rundum begrenzte Himmelskuppel betrachtet, die Ufer untersucht, Barsche gefangen, gebadet und die verblüffende Erfahrung gemacht, dass man gesund und glücklich leben konnte, wenn man an einem solchen Orte lebte, nicht zu viel tat und weder gehetzt noch gescholten wurde.

Der alte Leuenberger auf seiner Hotelterrasse kannte viele berühmte Kurlandschaften, aber keine hatte ihm einenstärkeren Eindruck gemacht als das Seeflüeli und seine Umgebung.


«Schneesturm im Sommer»

Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert. «Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.

«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»
Peter von Matt

Meinrad Inglin, «Schneesturm im Hochsommer».
Herausgegeben von Ulrich Niederer, Nachwort von Usama Al Shahmani, 256 Seiten, Leinenband, CHF 28.– (UVP), Limmat Verlag, Zürich

Umschlagfotografie: Dino Reichmuth, Unsplash
Typografie und Umschlaggestaltung: Trix Krebs
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978‑3‑03926‑021-8
© 2021 by Limmat Verlag, Zürich www.limmatverlag.ch

Beitrag vom 16.10.2022

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