Drei Männer im Schneesturm (Kapitel 3.1) Aus «Schneesturm im Sommer»
Eines Tages im September stiegen drei Männer aus demselben Dorfe zu einer Wanderung ins Hochgebirge hinauf. Sie galten als tüchtige Bergsteiger, und niemand zweifelte, dass sie wohlbehalten zurückkehren würden; aber nur zwei von ihnen kehrten lebend zurück. Ein Unglück in den Bergen war kein seltenes Ereignis, fast jeden Sommer einmal brach die Rettungskolonne auf, um Verletzte oder tödlich Abgestürzte zu bergen; was die beiden von ihrem Erlebnis erzählten, klang denn auch durchaus glaubwürdig und hätte andern ebenso gut zustossen können. Sie waren noch zu dritt in einen Schneesturm geraten, wie er auf Höhen über zweitausend Metern mitten im Sommer hereinbrechen kann, und bei schlechter Sicht einen Steilhang hinabgerutscht; dabeihatten zwei von ihnen Beinbrüche erlitten, und einer dieser Verletzten war später vor Erschöpfung gestorben.
In diesem Bericht aber gab es eine Stelle, die nicht ganz klar schien und von jedem der beiden Zurückgekehrten unabsichtlich ein wenig anders erzählt, ja bei einer gelegentlichen Wiederholung sogar abgeändert wurde. Der Erzähler, den man auf diese Unstimmigkeit hinwies, verriet eine gewisse Verlegenheit, besonders der eine, der das Abenteuer heil überstanden hatte, ein Zugewanderter übrigens, der erst seit einem halben Jahr als Fotograf im Dorfe wohnte; von ihm munkelte man am Ende geradezu, dass er den Hinterlassenen seines verunglückten Kameraden ausweiche, als ob er ein schlechtes Gewissen hätte.
Er war ein mächtig gebauter, geistig sehr regsamer Mensch mit gutherzigen Augen, der als Kurdirektor, Skilehrer oder Klavierspieler bald da, bald dort gewohnt und sich überall rasch beliebt, aber nirgends sesshaft gemach thatte. Dieser unstete Mann, den viele nur nach seinem Vornamen Christoph nannten, wurde nun in der Tat vom Anblick der Hinterlassenen und von Fragen nach dem ungelösten Rest jenes Berichtes dermassen geplagt, dass er das Dorf schon bald wieder verliess. Jahre später erzählte er in einem Kreisvertrauter Freunde sein Erlebnis, das ihm unvergesslich und bis zu jeder Einzelheit noch gegenwärtig war. Er erwähnte seine Begleiter, Karl und Otto, zufällige Bekannte, und begann:
Wir hatten eine zweitägige Wanderung bei strahlendem Licht über Gletscher und Gräte hinter uns. Am Morgen des dritten Tages standen wir um vier Uhr in der Dunkelheit vor der Klubhütte, streckten die Nasen in die Luft und suchten den Himmel nach Sternen ab. Der Himmel war wider Erwarten bedeckt. Karl und Otto wollten trotzdem aufbrechen, da wir keine gewagte Gipfeltour vorhatten, sondern abermals nur eine Wanderung, wenn auch eine langwierige durch ein abgelegenes, grossartig wildes Gebiet. Mir war es recht. Ich gab immerhin noch zu bedenken, dass wir in den nächsten zwölf Stunden keine Hütte antreffen würden, aber dann brachen wir auf.
Nach einem dreistündigen Anstieg über Alphänge und alte Schneefelder erreichten wir den Grat, auf den wir es vor allem abgesehen hatten, einen mannigfaltigen, bald breiten, bald schmalen Rücken, der auf einer mittleren Höhe von zweitausendfünfhundert Metern sich weit gegen Osten hinstreckt. Auf diesem Grate wanderten wir nach kurzer Rast dahin, einen kühlen Nordwestwind im Rücken, der uns nicht recht gefiel, aber vor uns eine Wunderwelt von Flühen, Schründen und urweltlichen Trümmerfeldern, von fernen Gipfeln, Kämmen und Gletschern, eine wahre Augenweide, die uns gar nicht daran denken liess, umzukehren.
Wir zogen tüchtig aus, stiegen da über einen Höcker hinweg, dort in einen Sattel hinab, umgingen irgendeinen Stock, dessen Namen kein Mensch kennt, und kamen immer wieder auf bequeme gleichmässige Strecken des Gratrückens. Der Wind nahm zu, aber da wir mit ihm gingen, fiel uns das nicht besonders auf, bis er plötzlich weisse Körnchen vor uns hertrieb, weit zerstreute feine Schneekörner. Bis jetzt hatte man auf dieser kahlen Höhe den Wind nicht gesehen, jetzt sah man ihn.
Als wir anhielten, mussten wir uns die Hüte schon fester aufdrücken. Wir begannen zu beraten, gleichmütig, wie es erprobten Bergsteigern ansteht, obwohl uns alles andere als Gleichmut erfüllte. «Wir müssten auf dem nächsten Wege bergab», sagte Karl ruhig, und das war ein ebenso einsichtiger wie überflüssiger Rat, da es, was auch er wusste, weithin nur Felsabbrüche und steile Kletterhänge, aber keine nächsten Wege bergab gab; wir konnten nur zurück oder vorwärts gehen. Ich schlug den Rückweg vor, und wir gingen zurück. Ungefähr zehn Minuten lang wanderten wir gegen den Wind, aber mit jeder Minute schien die Windstärke zu wachsen, und was wir im Nordwesten vor uns hatten, glich schon eher einem Schneetreiben als einer Aussicht.
Otto blieb stehen und sagte: «So können wir es vielleicht eine Stunde lang aushalten, aber dann sind wir noch nicht weiter als sonst in zwei Stunden; lieber vorwärts.» Da Karl ihm zustimmte, kehrten wir um und gingen mit dem Winde wieder vorwärts. Es war falsch, wir hätten den Rückweg erzwingen müssen, den ich vorgeschlagen hatte, und ich ging nicht aus Überzeugung davon ab, sondern nur deshalb, weil auch mir das Gehen mit dem Winde leichter fiel. Diese schwächliche Nachgiebigkeit kann ich mir heute noch nicht verzeihen, so begreiflich sie erscheinen mag; ich habe diese ganze Geschichte gründlich durchdacht und mir alles vorgeworfen, was nach einer Schuld aussah. Ich will meinen Anteil redlich tragen.
Wir gingen also vorwärts, während der Wind uns immer kälter in den Nacken biss und den körnigen Schnee immer eiliger und dichter vor uns hinsäte. In unglaublich kurzer Zeit war alles weiss, so weit wir sehen konnten, und als wir nach einer Stunde den Abhang eines Stockes, der uns im Weg stand, auf der Windseite überqueren mussten, merkten wir ziemlich erstaunt, dass der Schnee, der auf dem Grate immer wiederweggefegt wurde, uns hier schon bis zu den Knöcheln reichte. Der Wind wuchs zum Sturm an, und der waagrecht geschleuderte Schnee blieb an uns haften wie Klebstoff. Wir begannen an die Ohren und Hände zu frieren und büssten es nun, dass wir keine Handschuhe mitgenommen hatten. Am unangenehmsten jedoch war die immer stärker beschränkte Sicht; wir sahen im Schneetreiben wie im dichtesten Nebelkeine zwanzig, ja manchmal keine zehn Schritte weit und gingen immer langsamer, vorsichtiger, um nicht auf eines der ausweglosen Bänder zu geraten.
Der Grat läuft am Ende in eine unregelmässige Hochebene aus, die im Nordosten durch einen leicht ansteigenden langen Kamm begrenzt wird. In diesem Kamm gibt es eine «Lücke», eine der bekannten, einander ähnlichen Lücken, die oft den einzig möglichen Durchstieg durch langgestreckte felsige Schranken oder Riegel bezeichnen und die in unseren Gebirgskarten ja auch sorgfältig eingetragen sind. Diese Lücke mussten wir finden, und wir bildeten uns ein, dass es drüben dann besser gehen werde, obwohl wir hätten wissen können, dass uns dort ein zwar abfallendes, aber trostlos weites, vordem Winde ungeschütztes Gebiet erwartete.
Wir stapften also vom Grat auf die sogenannte Hochebene hinaus, die mit einer richtigen Ebene natürlich wenig zu tun hat, und hier reichte uns der Schnee schon bis an die Waden. Den Rücken gebuckelt, den Hut über den Ohren, die Hände in den Hosensäcken, gingen wir, leicht nach Nordosten haltend, auf den Kamm zu, den wir nach unserer Meinung gar nicht verfehlen konnten. Da ich vorhin sagte, der Wind sei zum Sturm angewachsen, so müsste ich jetzt sagen, er sei zum Orkan geworden, wenn diese Bezeichnung in unseren Breiten erlaubt wäre, zu einem atemraubenden eisigen Schneesturm, dem wir uns schräg nach links entgegenstemmen mussten, um nicht hingelegt zu werden. Wer so etwas nie erlebthat, dürfte es kaum für möglich halten, aber ich erlebte es zum zweiten Mal und kann es bezeugen.
Den ersten derartigen Sturm in einer unwegsamen Hochgebirgs gegendüberstand ich vor etwa fünfzehn Jahren, und zwar mitten im Sommer, an einem achtundzwanzigsten Juli, einen Schneesturm, der die Strasse vor der noch tief unter uns liegenden Passhöhe meterhoch verwehte, das Postauto zur Umkehr zwang, Telefonmasten knickte und das Hospiz von der Aussenwelt abschnitt. Einige Zeitungen haben darüber berichtet, man kann es nachlesen, wenn man will. Unten in den Tälern merkt man wenig davon, man ärgert sich höchstens über die kühlen Regenschauer, und da oben schwingt der weisse Tod wie rasend sein riesiges Leintuch über ein paar armen Bergsteigern.
Dieses frühere Erlebnis stieg vor mir auf wie ein beängstigender Traum, als wir nun auf den Kamm losgingen, und mir schien, es sei wieder genau so wie damals, nur dass es jetzt September und nicht Juli war. Das Gelände begann endlich vor uns anzusteigen, wie wir es erwarteten, aber es war nur eine Bodenwelle, drüben ging es zu unserer Enttäuschung wieder bergab, und zwar so weit, dass wir Verdacht schöpften und nach kurzer Zeit denn auch nichts mehr vor uns hatten als den Abgrund. Wir vermuteten, dass wir zu weit nach Norden abgewichen waren, wo es schroff in die Tiefe ging.
Hier verrieten meine beiden Kameraden zum ersten Mal ihre gedrückte Stimmung, sie fluchten voll banger Sorge und suchten nun endlich den Kompass aus dem Rucksack hervor, was wir schon längst hätten tun sollen. Diese Unterlassungssünde nahm ich auf mich, ich hatte an den Kompass gedacht und ihn nur deshalb nicht hervorgeholt, weil ich meinte, dass wir ohne ihn auskommen würden, und weil es vor allem sehr widrig war, stehen zu bleiben, den Rucksack abzuhängen und aufzumachen. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber es ist dennoch so; man fürchtet sich in einer derartigenLage geradezu, das beruhigende Gehen und unablässige Denken auf ein bestimmtes Ziel hin zu unterbrechen, denn bei jedem Halt sind nicht nur Wind und Kälte viel schwerer zu ertragen, man wird auch von ganz unnötigen Gedanken überfallen und hat das Gefühl, kostbare Minuten zu verlieren.
Zum Autor
Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.
Wir stellten fest, dass wir wirklich zu weit nach links geraten waren und hier unmittelbar über den steil abfallenden Nordwänden standen. Nun gingen wir auf unseren eigenen Spuren, die übrigens schon nach hundert Schritten kaum mehr zu erkennen waren, eine ordentliche Strecke zurück, dann steiften wir den Kompass ein und nahmen die Nordostrichtung. Auf diese Art kamen wir nach einer Stunde zum Kamm hinauf, wo wir uns sofort trennten, um die Lücke zu suchen. Karl und Otto gingen nach rechts; ich suchte nachlinks, geriet aber bald wieder zu weit bergab und sah noch einmal in der Karte nach dem Verlauf des Kammes, dann kehrte ich um und folgte, meine Schritte zählend, den Kameraden, die sich, wie ich an den verwischten Spuren gerade noch erkennen konnte, durch jede grössere Scharte hinausgebeugt hatten. Der ziemlich zerrissene Kamm war überall von Schneewehen bedeckt wie von Wellen, die sich schäumend überschlagen. Nach ungefähr vierhundert Schritten musste die Lücke zu finden sein, wenn meine Berechnung stimmte, und dort fand ich sie auch. Karl und Otto, die noch über sie hinausgesucht hatten, kamen zurück und erklärten ebenfalls, dies sei die richtige Stelle.
Vorsichtig traten wir in den gabelförmigen Ausschnitt und blickten auf die andere Seite hinab, konnten aber nichtviel mehr erkennen als den obersten Ansatz eines Steilhanges, der sich im Schneegestöber verlor. Wir waren einig, dass uns hier das schwierigste Stück des Tages bevorstand, da wir mit dem Pfade nicht rechnen konnten. Dieser schmale, auch bei aperem Boden oft kaum sichtbare Pfad, der stellenweise nichtbreiter ist als eine Handspanne, führt im Zickzack etwa hundert Meter weit den felsigen Hang hinab, war aber nun völlig verweht und nicht einmal zu erraten.
Die Lücke gewährte einen notdürftigen Schutz vor dem Sturm, und hier setzten wir uns in den Schnee, um zu essen. Wir hatten seit vier Stunden nicht mehr gerastet, waren hungrig und vom Waten ermüdet. Wir fanden es aber nach wenigen Minuten schon so ungemütlich und begannen derart zu frieren, dass Karl und Otto zum Aufbruch drängten. Ausserdem hatten wir viel Zeit verloren, es war schon drei Uhr nachmittags, und wir mussten uns beeilen, wenn wir vor der Dunkelheit ins Tal hinabkommen wollten. So seilten wir uns denn an und stiegen ab. Ich ging als Letzter am Seil und konnte in der Lücke noch gut sichern, aber weiter unten wurde es schwieriger, der Schnee bot keinen genügenden Halt, und wo man ihn wegwischte oder mit dem Eispickel durchschlug, geriet man immer häufiger auf Felsplatten. Plötzlich rutschten wir ab. Ich weiss noch genau, wie es geschah.
Wir waren schon im untersten Teil des Hanges, ich hatte gesichert, so gut ich konnte, Otto ging voraus, soweit das Seiles erlaubte, dann suchte er ziemlich lange, ohne einen richtigen Halt zu finden, und rief endlich: «So, jetzt, glaub’ ich …probiert’s!» Kaum hatte ich meine Sicherung aufgegeben, da schrie Karl, der zwischen uns ging, laut: «Halten!» Im selben Augenblick wurde ich durch einen Ruck am Seil aus dem Stand gerissen, rutschte Karl nach und stemmte meinen Pickel mit aller Kraft umsonst in den Hang. Ottos Sicherung versagte, wir rissen ihn mit, rutschten auf dem Schneehang, der gegen meine Befürchtung nicht ins Gleiten kam, etwa zehn Meter weit ab und stürzten zuletzt noch drei, vier Meter auf nur fusshoch verschneite harte Karren hinunter.
Beim Aufprallen überschlug ich mich, rutschte um eine Manneslänge weiter und griff mit beiden Händen in den Schnee, um mich festzuhalten, aber wir waren endgültig unten angelangt. Ich lag mit schmerzender Hüfte an einem schrägen Bord und hörte dicht über mir auf dem Absatz, wo meine Kameraden lagen, ein raues Stöhnen und jammerndes Fluchen. Ich prüfte meine Glieder, erhob mich und stellte aufatmend fest, dass ich mit einer tüchtigen Quetschung davongekommen war. Karl und Otto dagegen klagten über starke Schmerzen im linken Bein und fielen beim Versuche, aufzustehen, stöhnend gleich wieder hin. Es ergab sich, dass sie wahrscheinlich den linken Unterschenkel, mindestens aber das Wadenbein gebrochen hatten, sie konnten weder gehen noch auf beiden Beinen stehen.
Otto blickte mich mit ungläubig erschrockenen Augen an, als ob er dies nicht fassen könnte, dann sank er auf eine ganz besondere, verzweifelte Art, so wie man sich verloren gibt, langsam zurück und legte die Stirn auf den gekrümmten Arm. Ähnlich benahm sich Karl. Mir war sofort klar, dass sie nicht wegen eines gebrochenen Beines verzweifelten, sondern in der Einsicht, dass für sie die ohnehin schlimme Lage unter solchen Umständen hoffnungslos wurde. Wir befanden uns hier auf den obersten felsigen Stufen einer ausgedehnten Schafweide, die mit einer Neigung nach Nordwesten gestaffelt gegen eine Alp abfällt, eine weite, zu dieser Zeit schon verlassene Rinderalp, von der ein zweistündiger schlechter Weg durch den Wald zu den verstreuten ersten Bergheimwesen hinunterführt.
Man sah auch hier noch immer keine zehn Schritte weit, der Schneesturm fegte mit unverminderter Wucht über uns hin und drang uns jetzt, da wir nicht mehr gingen, schneidend kalt durch die Kleider; unsere Hände waren vor Kälte geschwollen und unempfindlich geworden. Man muss sich dies alles zugleich vor Augen halten, um die Verzweiflung meiner Kameraden zu verstehen. Auf einer Höhe von zweitausendvierhundert Metern, hoch über allen menschlichen Wohnungen, ohne Pfad, ohne Sicht, wie erblindet und halb erschöpft mit einem Beinbruch im eisigen Schneesturm, drei Stunden vor dem Zunachten – wer da noch Hoffnung hätte, dürfte kein erfahrener Bergsteiger sein.
Ich verzichtete auf jeden unbegründeten Trostversuch und sprach vielmehr ohne lange Überlegung den nächstliegenden Gedanken aus: «Ich laufe so rasch wie nur möglich hinab, trommle da unten ein paar tüchtige Burschen zusammen und führe sie hinauf, mit Bahren oder mit einem Hornschlitten…»
Ich blickte sie an und wartete, was sie dazu sagen würden, aber sie sagten nichts, sie wussten Bescheid. Sie wussten, dass ich bis zu den obersten Häusern hinab mindestens vier Stunden brauchen würde, dass ich eine Rettungskolonne dann nicht im Handumdrehen beisammenhätte und dass die Kolonne mit einem etwa sechsstündigen Aufstieg rechnen müsste, abgesehen von der Frage, ob ich nach so ausserordentlichen Anstrengungen überhaupt noch fähig wäre, sie dahinaufzuführen, und abgesehen auch von der hohen Wahrscheinlichkeit, dass eine Rettungskolonne im Morgengrauen zu spät käme. Das Schweigen, mit dem sie meinen Vorschlag aufnahmen, erschütterte mich mehr, als wenn sie noch so furchtbar geklagt hätten.
Indessen kam mir ein anderer Gedanke. «Da unten auf der Alp ist doch ein Stall, nicht?», fragte ich.
«Ja, aber wie willst du den finden!», erwiderte Otto dumpf. «Er steht irgendwo mitten auf der Alp … Aber du würdest ihn nicht finden, auch wenn du wüsstest, wo er wäre … man sieht ja nichts.»
«Aber ich kann ihn suchen, verdammt noch mal! Und dann schleppe ich euch beide hinab.»
«Hinab wären es etwa zwei Stunden und hier hinauf drei … bis dahin …»
«Aber es wäre doch eine Möglichkeit!», warf Karl ein.
«Jawohl!» rief ich. «Und solang es eine Möglichkeit gibt, hat es keinen Sinn, den Kopf hängen zu lassen, Otto. Der Stall wird gesucht. Und einen von euch nehme ich gleich mit …oder versuche es doch wenigstens.»
Das belebte sie nun beide, aber, wie ich rasch merkte, auf eine sehr zwiespältige Art, und im nächsten Augenblick überfiel mich selber die Frage, die ihre aufkeimende Hoffnung erbarmungslos bedrohte: Wie soll einer allein es hier oben auch nur zwei, geschweige denn fünf Stunden aushalten? Wir waren tatsächlich so ermüdet und froren, ja schlotterten am ganzen Körper dermassen, dass nicht einmal ich mit meinen gesunden Gliedern mir so etwas zugetraut hätte. Davon sagte ich aber nichts, ich klammerte mich vielmehr an meinen Einfall, da mir gar keine andere Wahl blieb.
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- Jeweils sonntags wird der Roman «Schneesturm im Hochsommer» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
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«Schneesturm im Sommer»
Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert. «Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.
«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»
Peter von Matt
Meinrad Inglin, «Schneesturm im Hochsommer».
Herausgegeben von Ulrich Niederer, Nachwort von Usama Al Shahmani, 256 Seiten, Leinenband, CHF 28.– (UVP), Limmat Verlag, Zürich
Umschlagfotografie: Dino Reichmuth, Unsplash
Typografie und Umschlaggestaltung: Trix Krebs
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978‑3‑03926‑021-8
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