82. Hausamanns Erzählungen Aus «Staatsmann im Sturm»
Der General ist über alle gegen ihn gerichteten Machenschaften gut informiert. Die Anführer der Offiziersverschwörung, die Nachrichtenleute Ernst, Waibel und Hausamann sind wieder auf freiem Fuss und beliefern den General regelmässig mit Berichten über das Treiben Willes, Dänikers etc. Die Verschwörer von Luzern bleiben in Amt und Würden, obgleich Ernst am Tag seiner Verhaftung melodramatisch seiner Frau geschrieben hat:
Nun weiss ich ja nicht, ob ich je wieder Soldat sein darf oder ob sie mir meinen Beruf nehmen. Wenn ja, dann fangen wir eben zusammen von vorne an. Du wirst mir dann helfen, wenn es schwer fällt, all das aufzugeben, was mir wichtig war. Ich habe keine Angst, es wird dann schon gehen. Im übrigen glaube ich je länger je mehr, dass unser Land wegen der Sorglosigkeit, Feigheit und Blindheit der Mehrheit einem bitteren Ende entgegengeht. Wenn wir wenigstens kämpfen und hoffentlich sterben dürften, dann wäre es ja noch zu ertragen. Aber ich fürchte immer mehr, dass wir kampflos gleichgeschaltet werden. Sieh, das ist das Einzige, was mir Sorge macht, dass ich ausgerechnet jetzt, wo ich mehr denn je gegen den Defaitismus in jeder Form kämpfen sollte, nicht mehr auf meinem Posten sein kann. Aber weisst Du, sie können unsere Idee nicht treffen, auch wenn sie uns einsperren. Wer weiss, ob nicht gerade dadurch unserer Sache gedient ist?
Ernsts dunkle Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Generalstabschef Huber und der General legten ihre schützende Hand über Ernst, Waibel und Hausamann. Huber hielt ihnen zugute, dass sie ihre Vorbereitungen nur für den Fall trafen, «dass Bundesrat oder Armeeleitung kapitulieren würden»:
In dieser Lage wäre aber nach meiner Auffassung und Darlegung die Gehorsamsverweigerung nicht nur Recht, sondern Pflicht jedes Wehrmannes. Dass Hptm. Ernst, Waibel und Mitläufer nicht mehr Vertrauen in Bundesrat und Armeekommando hatten, ist bedauerlich, für jugendliche und fanatische Gehirne einigermassen erklärlich und entschuldbar.
Oberauditor Friedrich Trüssel fand zwar, das Vorgehen der Offiziere «hätte sich für die Armee gegebenenfalls in verhängnisvoller Weise auswirken können» und sei «nicht unbedenklich» gewesen. Gleichwohl beantragte er dem General, «der Angelegenheit keine weitere militärgerichtliche Folge zu geben, sondern sie disziplinarisch abzuhandeln».
Der General verfügte darauf die Bestrafung von Ernst mit 15, Waibel mit 10, Hausamann mit 5 und Weder mit 3 Tagen scharfem Arrest. Am Donnerstag, 29. September, befahl Guisan die Rädelsführer ins Schloss Gümligen und hielt ihnen eine Strafpredigt, die eher einer Laudatio gleichkam. Ernst wird sich später erinnern:
Er empfing uns freundlich. Seine Ansprache an uns war offen und wohlwollend. Er betonte, unser Ziel sei einwandfrei gewesen, aber wir hätten uns in den Mitteln vergriffen. Er werde uns disziplinarisch bestrafen. Damit sei für ihn die Sache erledigt. Er wolle uns sein Vertrauen weiterhin schenken.
Dies geschah auch. Zwar äusserte Oberauditor Trüssel «ernsthafte Bedenken» an der «Wiedereinsetzung der Hauptleute Ernst, Waibel und Hausamann in den Nachrichtendienst» und Generalstabschef Huber meinte, «dass diese Offiziere unter keinen Umständen wieder im Nachrichtendienst Verwendung finden sollten». Masson hingegen hielt die Dienste der «erfahrenen Nachrichtenoffiziere» für unentbehrlich. Die Gemassregelten hätten geheime Verbindungen zu Vertrauensleuten im Ausland aufgebaut und seien deshalb unverzichtbar. Da Masson versprach, seine Untergebenen künftig schärfer zu überwachen, konnten Waibel, Ernst und Hausamann an ihren Posten bleiben.
Im Oktober sassen sie ihre Strafen ab. Für Waibel war der Arrest in der Kaserne Thun «eine geruhsame Zeit, in der wir uns von den Strapazen des Nachrichtendiensts erholen konnten». Auch Ernst empfand die Arresttage als «angenehm»:
Wir durften private Arbeiten verrichten, nach Wunsch unbewacht spazieren gehen und genossen ganz allgemein die grösste Freiheit. Unsere Pistolen wurden uns zwar abgenommen, aber in einem leicht zu öffnenden Schrank in unserem Zimmer versorgt, damit wir sie rascher wieder gehabt hätten, wenn es zum Krieg gekommen wäre.
Während seines Arrests forderte Ernst in einem Bericht über die Tätigkeit seines Nachrichtendiensts den Ausbau einer Organisation gegen «alle künftigen schweizerischen Háchas und Quislinge». Diese sollten wissen, dass ihnen eine «gut schweizerische Kugel» warte.
Hausamann schmiedete seinerseits einen neuen Plan, wie Defaitismus und Anpassung zu bekämpfen seien. Er wollte aus Männern und Frauen, «die sich im Widerstand bewährt hätten», einen zivilen Bund gründen, dessen Mitglieder nach dem Schneeballsystem rekrutiert werden sollen. Jeder der Geheimbündler darf nur den kennen, der ihn angeworben hatte. Für jedes Mitglied gilt «absolute Geheimhaltung ». Heissen soll der Bund «Aktion Nationaler Widerstand».
Am 7. September luden Hausamann, Hans Oprecht und August Lindt eine Anzahl vertrauenswürdiger Personen ins Bahnhofbuffet Zürich ein. Dort wurde ihnen eine von Lindt und dem ebenfalls im Nachrichtendienst tätigen Philosophen und Dichter Ernst von Schenck verfasste feierliche Erklärung vorgelegt:
Ich bin entschlossen und bereit, ich gelobe unter Einsatz von allem und jedem zu kämpfen: für die Freiheit, Ehre und Unabhängigkeit der Schweizerischen Eidgenossenschaft, geworden auf christlicher Grundlage, für die Freiheit der Person und des Gewissens; für die Freiheit der Gemeinschaft auf föderalistischer Grundlage; die Volksherrschaft auf Grund der persönlichen Verantwortung für die Sicherung von Arbeit und Brot jedes Eidgenossen gegen jeden Defaitisten, stehe er, wo er wolle.
Dr. Lindt in Bern, Dr. von Schenck in Basel und Dr. Oprecht in Zürich, alles Ehrenmänner, ist es seither gelungen, aufrechte Schweizer Patrioten für ihre Aktion Nationaler Widerstand (ANW) zu gewinnen. Zu den über 500, aus verschiedenen politischen Lagern stammenden Mitgliedern der Organisation gehören einflussreiche Persönlichkeiten aus allen Landesgegenden, darunter die Journalisten Albert Oeri, Markus Feldmann, Paul Meierhans, Hermann Böschenstein; die Politiker Emil Klöti, Albert Picot, Pierre Graber (der spätere Bundesrat); Akademiker wie Prof. Karl Meyer, Prof. David Lasserre, Prof. William E. Rappard und der Basler Theologe von Weltruf Karl Barth. Sie setzen sich zum Ziel,
die günstigsten politischen und geistigen Bedingungen für den Einsatz des Heeres zu erhalten, beziehungsweise zu schaffen, wo sie nicht oder nicht mehr vorhanden waren, für den Fall, dass vom Ausland an die Schweiz Zumutungen gestellt werden sollten, die an die Grundlage der Unabhängigkeit rührten.
In diesem Sinn sollen die Mitglieder Einfluss auf die Behörden und ihre Mitbürger ausüben. Dies geschieht in Zusammenkünften oder Versammlungen von Bürgern, Gewerkschaftern, Soldaten. Ein von der Führung der ANW ausgewählter Vortragsredner macht den Zuhörern im Sinne der geistigen Landesverteidigung Mut undwarnt sie vor den Machenschaften der Nazifreunde und der «Anpasser» in Armee, Wirtschaft und Politik.
Das Reich will jedoch den patriotischen Widerstandskämpfern keine Chance zur Selbstaufopferung geben. Es stellt keine Zumutungen, welche die Ehre der Eidgenossenschaft antasten. Hitler hat sein Interesse an einem Einmarsch in die Schweiz, mit dem er Ende Juni höchstens ein paar Tage lang gespielt hat, verloren. Die von ihm jetzt vertretene Politik der Schaffung des «neuen Europa» erfordert weder eine Aufteilung der Schweiz noch eine Änderung ihrer Staatsform. Im Auswärtigen Amt kennt man die Schweiz gut genug, um zu wissen, dass man ihr keine unzumutbaren Forderungen stellen kann. Sie ist ein nützlicher Handelspartner, der Deutschland wichtige Industriegüter auf Kredit liefert.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Pilet ist ungleich besser über die Weltlage informiert als die wohlmeinenden «Widerstandskämpfer». Sorgfältig liest er die Berichte, die ihm die meist gut informierten und klugen Schweizer Gesandten im Ausland per Kurier zuschicken. Stucki in Vichy, Geschäftsträger de Torronté in Paris, Thurnheer in London, Bruggmann in Washington, Rüegger in Rom und selbst der stark angefeindete Frölicher in Berlin sind versierte Diplomaten, auf deren Kenntnisse ihres Gastlands und deren Urteil sich schon Motta verlassen hat. In Bern stützt sich Pilet auf bewährte Kräfte, die schon unter Motta ihre Sporen abverdient haben, und auf ehemalige Gesandte wie Paravicini.
Im Vergleich zu dem Reservoir an Fachwissen, aus dem Pilet schöpft, nehmen sich die aussenpolitischen Kenntnisse der führenden Köpfe in der Aktion Nationaler Widerstand – vom Weltreisenden Lindt vielleicht abgesehen – bescheiden aus. Oprecht und Hausamann haben nie im Ausland gelebt, E. von Schenck, der in Deutschland aufgewachsen ist, weilt seit seiner Gymnasialzeit ununterbrochen in Basel.
Hans Hausamann kennt das Nachrichtengeschäft besser als seine Gesinnungsgenossen Waibel, Ernst und Lindt. Der an Militärfragen brennend interessierte Fotogeschäfts-Besitzer betreibt schon seit Jahren ein privates Pressebüro, das Artikel an verschiedene Zeitungen und Zeitschriften verkauft. Seine Mitverschwörer können nicht wissen, dass der Teufner kurz nach der Machtergreifung Hitlers, am 8. April 1933, dem Auswärtigen Amt in Berlin einen langen Brief schrieb, in dem er das Unvermögen der nationalsozialistischen Propaganda kritisierte und mit dem Angebot schloss:
Ich bin ferner gerne zu Ihrer Verfügung, wenn ich Ihnen in der Organisation ihrer Auslandpropaganda nützen kann.
Der Teufner Fotohändler kam von seiner anfänglichen Begeisterung für die Nazis bald weg. Als Pressechef der einflussreichen Schweizerischen Offiziersgesellschaft baute er ein Netz von Vertrauensleuten auf, die 1935 mithalfen, die Volksabstimmung über Mingers Wehrvorlage zu gewinnen. Das von ihm gegründete private «Büro Ha» – letztlich ein Einmannbetrieb – arbeitet mit dem Nachrichtendienst Massons zusammen, ist ihm jedoch nicht unterstellt. Hausamann pendelt zwischen seinem Haus in Teufen und der für sein Büro vom Militär gemieteten Villa in Luzern/Kastanienbaum hin und her. Er kommt regelmässig nach Bern, wo er mit alliierten Gesandtschaften einen einträglichen Handel mit angeblichen Geheimnachrichten treibt. Von der Eidgenossenschaft wird Hausamann monatlich mit stattlichen 10 000 Franken entlohnt, über deren Verwendung er keine Rechenschaft ablegen muss.
Nach Absitzen seiner kurzen Arreststrafe wegen seiner Beteiligung an der Offiziersverschwörung hat Hausamann vom General die Bewilligung erhalten, ihm seine «Spezialberichte» ohne Umweg über Masson direkt zuzusenden. Er nützt dieses Privileg aus, indem er den Oberkommandierenden mit «politischen» Berichten versieht, bei denen es nicht selten um eine Ansammlung von Gerüchten geht.
Hausamanns «Spezialberichte» enthalten meist unüberprüfbares Material, das ein schlechtes Licht auf Pilet wirft. «Ha» ist nicht verborgen geblieben, dass negative Meldungen über den hochmütigen Bundespräsidenten bei vielen Journalisten und Militärs – nicht zuletzt auch beim General – gut ankommen. In einer Meldung vomNovember 1940 gibt Hausamann – echte oder angebliche? – Meinungsäusserungen von Bürgern über Pilet wieder:
Ein Maurer von der Ciba: Ein Verräter grossen Formats an der Schweiz ist Pilet-Golaz. Deshalb der Rücktritt der beiden Bundesräte, die mit dem geschniegelten Pilet nicht mehr an einem Tisch sitzen wollten.
Ein Schulabwart: Mit Minger und Baumann scheiden zwei Männer aus, die darauf Anspruch erheben dürfen, demokratisch in ihrer Gesinnung zu sein. Den restlichen Fünf gebe ich keinen Kredit, ich traue ihnen alles, nur keine mutige Tat zu. Es ist ein Landesunglück, die Leitung der schweizerischen Aussenpolitik in den Händen eines Pilet-Golaz zu wissen, der seine Hauptaufgabe darin sieht, jedes Stirnrunzeln der Diktaturen zu vermeiden und im übrigen in gut gebügelten Hosen herumzulaufen. Ein schweizerischer Laval.
Am 12. Dezember, zwei Tage nach seiner immer noch schmerzenden Niederlage in der Bundesratswahl, trifft Markus Feldmann «im Vorzimmer des Nationalrats zufällig Dr. Lindt», der ihm Folgendes erzählt:
Kürzlich wurde von der Schweiz versucht, Amerika dazu zu bringen, bei England ein grösseres Entgegenkommen an die Schweiz in der Blockadebehandlung zu erwirken. Bei dieser Gelegenheit unterhielt sich Pilet mit einem amerikanischen Diplomaten und dessen Frau über die Stellung der USA. Auf die Frage der Amerikaner, was er von der Hilfe der USA halte, bemerkte Pilet, wenn die amerikanische Hilfe überhaupt komme, so werde sie zweifellos zu spät eintreffen. Auf den verwunderten Einwand der Amerikaner, dass das nicht so sicher sei und dass die Schweiz auch ein Interesse daran haben könnte, dass England, das heisst einer Demokratie, geholfen werde, erklärte Pilet: «Heute fallen die Blätter und heute fallen auch die Demokratien.» Über dieses Gespräch haben die Amerikaner nach Washington berichtet, und Dr. Lindt besitzt eine Photokopie dieses Berichtes. Während meines Gespräches mit Dr. Lindt kam Oprecht, der Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, drückte mir fest die Hand mit den Worten: «Jetzt müssen wir erst recht zusammenhalten.»
Lindt hat den angeblichen Beweis für Pilets Fehltritt, die Fotokopie einer maschinengeschriebenen Seite, von Hausamann erhalten. Das Blatt ist am Ende abgeschnitten und hat keine Signatur. Oben auf der Seite, neben dem Datum «October, 291 940», stehen in der Handschrift des amerikanischen Legationsrats Donald F. Bigelow die Worte «strictly confidential». Bigelow hat den ursprünglichen Titel «Memorandum of Conversation with Mr. Pilet-Golaz» in «Excerpts of Conversation with Mr. Pilet- Golaz» abgeändert. Unten an der Seite steht in Hausamanns Handschrift: «Kopie einer Note der Amerikaner.»
Schon die ersten Sätze in den «Auszügen aus einem Gespräch» zeigen, dass es sich dabei um keine Note und auch um keine diplomatische Unterredung handelt. Die Berichterstatterin ist keine Diplomatin, sondern Bigelows Gattin:
I met Mr. Pilet-Golaz this morning on his way home to lunch and we stopped to talk.
Pilet hatte offenbar «ein unbequemes Gefühl» wegen der den Bigelows ausgesprochenen Kündigung ihrer Wohnung im «De-Watteville-Haus». Er begründete die von ihm veranlasste Aufhebung des Mietvertrags damit, dass der Bundesrat in ihm gehörenden Gebäude oft Sitzungen abhält. Er könne in diesen Kriegszeiten keine fremden Diplomaten in der Villa dulden, besonders nicht Diplomaten einer Nation, «die in den europäischen Krieg involviert sein könnte».
Pilet war 1934 Bundespräsident, als der ohne einen Nachfahren gebliebene Zweig der Berner Patrizierfamilie von Wattenwyl sein «Palais» der Eidgenossenschaft verschenkte. Die verschiedenen Wohnungen, die zum fürstlichen, ans Münster grenzende Haus gehören, sind seither vom Bund vermietet worden.
Pilet, der seit zwölf Jahren am Scheuerrain wohnt und dort gelegentlich informelle Bundesratssitzungen abhält, ist aus verschiedenen Gründen auf die Idee eines Wohnungswechsels gekommen. Das Von-Wattenwyl-Haus liegt erstens nahe beim Bundeshaus. Zweitens macht die Kohlerationierung eine Heizung des alten Hauses am Scheuerrain praktisch unmöglich. Drittens ist im Untergeschoss des Gebäudes ein Geheimsender eingerichtet worden, der es dem Bundesrat ermöglicht, jederzeit mit dem Ausland Verbindung aufzunehmen oder zum Volk zu sprechen. Davon sagt Pilet Frau Bigelow nichts. Staatsgeheimnis.
Die Bigelows müssen zügeln, die Pilets werden im Januar in die Parterrewohnung des Palais einziehen. Der Bundespräsident trifft die Diplomatengattin zufällig auf dem Weg zum Mittagessen.
Nachdem Pilet erklärt hat, wieso den Bigelows gekündigt worden ist, fragt ihn die Diplomatengattin, ob er persönlich glaube, «dass wir bald im Krieg sein werden». Der Wortlaut von Pilets französischer Antwort ist nicht bekannt. Mrs. Bigelows Aufzeichnung gibt sie so wieder:
He replied that he certainly hoped not, that, at any rate, we were too late. We had even been too late during the last war to bring it to a satisfactory close.
Dieser Ansicht ist Pilet seit mehr als zwei Jahrzehnten. Als glühender Frankreich-Freund ärgerte sich Hptm. Pilet im Krieg 1914 – 18 über das Zögern der Amerikaner vor einem Eintritt in den Krieg. Er schreibt die Schwächen des unbefriedigenden Versailler Vertrags der verspäteten amerikanischen Kriegsteilnahme zu. Frau Bigelow entgegnet, ihrer Meinung nach sei dies damals nicht der Fall gewesen. Sie glaube auch nicht, es sei zu spät, um die demokratischen Nationen «mit sozialen Prinzipien wie unsern» zu unterstützen. Als Amerikanerin glaube sie ans Überleben der Demokratie. Pilet will das letzte Wort behalten:
Darauf sagte er, dass es keine Demokratie mehr gebe, die zu erhalten sei, und, dass nebenbei gesagt, Demokratie nie wirklich existiert habe. Die Klugheit verlange, dass möglichst bald Frieden gemacht werde. Er fügte hinzu, niemand sollte es sich herausnehmen, zu diktieren oder auszuwählen, was das bonheur anderer Völker sei.
Als Mrs Bigelow entgegnet, es gehe jetzt weniger um das bonheur der andern, als um ihr malheur, meint Pilet dies sei «lobenswert», aber wir sollten «die Deutschen und die Franzosen und alle Völker nach ihrem eigenen Glauben leben und ihre eigenen Bedürfnisse erfüllen lassen».
Jede Nation soll nach eigener Façon selig werden. Diese Ansicht ist dem jungen Studenten Pilet in Leipzig aufgegangen. Als er am 11. Juni 1911 von einer Militärparade zu Ehren des Sachsenkönigs nach Hause kam, erzählte er seiner Verlobten das Erlebte. In seinem Brief nahm er als «Sohn, Enkel und Urenkel von Republikanern» die Monarchie in Schutz! Daheim würde er es nie wagen, seinem Vater dies zu gestehen:
Was soll’s, ich bin deshalb kein schlechterer Bürger und um nichts in der Welt möchte ich bei uns einen König. Aber ich gehe nicht so weit, zu behaupten, dass man überall die Könige abschaffen soll, weit gefehlt. Armer Papa, was würdest du sagen, wenn du mich hörtest?
Fast drei Jahrzehnte später hat Pilet seine Meinung nicht geändert. Um nichts in der Welt möchte er in der Schweiz eine Diktatur, aber wenn die Deutschen, Italiener und jetzt die Franzosen damit leben können, ist es ihre Sache.
Das Gesprächsprotokoll von Mrs. Bigelow endet mit Pilets Aussage. Es ärgert die Bigelows, dass Pilet sie aus ihrer Wohnung geworfen hat. Sie haben kein Verständnis für Pilets Ansicht, dass «möglichst bald Frieden gemacht werden solle». Seine Skepsis gegenüber ihren eigenen Weltverbesserungsideen ist ihnen unbegreiflich. Sie überlassen Hausamann die Abschrift der Gesprächsnotizen. Die Aufzeichnung einer zwanglosen Plauderei ist keine «Note», wie Hausamann das Dokument nennt. Und schon gar nicht ein «Telegramm» über eine «Stellungnahme» des Bundespräsidenten, die «flugs nach Washington geschickt» wurde, wie der Historiker Bonjour nach dem Krieg schreiben wird.
Die Rede vom 25. Juni, die Frontistenaudienz und der Bigelow-Bericht werden Pilet weiterverfolgen. In der deutschen Schweiz ist er als Anpasser, wenn nicht gar als Verräter abgestempelt. Der Spruch «Me sött de Pilet goh la» macht die Runde.
- Hier gehts zum Nachwort.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Staatsmann im Sturm» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Diese Kapitel sind bereits erschienen
«Staatsmann im Sturm»
Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv