79. Die Schweiz atmet auf Aus «Staatsmann im Sturm»

Wie wird Deutschland auf die Auflösung der NBS, des Schweizer Ablegers der NSDAP, reagieren? Der Bundesrat rechnet zwar nicht mit einem deutschen Einmarsch, aber ausschliessen kann er ihn nicht. Er weiss, dass die militärähnlichen Jugendgruppen der NBS bewaffnet sind. «Zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens» werden Polizei und Truppen in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Die Radio-Spätnachrichten geben die Auflösung der Bewegung bekannt. Um 22.50 schreibt Feldmann ins Tagebuch: «Bisher ist trotz des Verbots der Nationalen Bewegung alles ruhig geblieben.»

Es bleibt auch am nächsten Tag ruhig. Die Zeitungen bringen die Nachricht von der Auflösung der NBS auf der Titelseite. In La Suisse erinnert Pierre Béguin die Leser, dass die NBS im Juni gegründet wurde, als man merkte, dass «Europa eine Seite seiner Geschichte gedreht» habe. Die ehemaligen Frontistenführer, deren Truppen sich zerstreut hatten, setzten sich wieder in den Sattel. Ein Zirkular der neuen Gruppierung hätte manch guten Bürger verleitet, diesen Frontistenchefs Vertrauen zu schenken. Inzwischen habe man erkannt, wo die wirklichen Ziele der NBS liegen. Béguin:

Wenn auch die Vergangenheit ihrer Chefs nicht dazu angetan war, ihnen volles Vertrauen zu schenken, bemühte man sich trotzdem, sie ohne vorgefasste Meinung zu beurteilen. M. Pilet-Golaz, bedacht darauf, sich zu informieren, zögerte deshalb im September nicht, sie zu empfangen.

Béguin schreibt, Recherchen hätten gezeigt, dass die Herren der NBS Meister der Verkleidungskunst waren:

Während sie vorgaben, mit legalen Mitteln zu arbeiten, organisierten sie ein ganzes Netz von Zellen und gingen sogar gesetzwidrig so weit, paramilitärische Jugendorganisationen zu schaffen. 

Die NBS sei «eine revolutionäre Bewegung». Deshalb habe der Bundesrat sie aufgelöst:

Einmal mehr hat die helvetische Regierung gezeigt, dass sie zwar alle politischen Doktrinen toleriert, aber nicht zulässt, dass man sie mit illegalen Mitteln in die Praxis umsetzt. Es geht keineswegs darum, jeder Erneuerung und jeder Reform den Weg zu versperren, aber sicherzustellen, dass sie sich einzig und allein in der Ordnung realisieren.

La Suisse-Journalist Béguin, der bald zum Journal de Genève wechseln wird, geniesst Pilets Vertrauen. Sein Artikel gibt die Gedanken des Bundespräsidenten wieder.

Pilet erklärt Köcher, das Verbot der NBS sei eine interne Angelegenheit und kein unfreundlicher Akt gegenüber Deutschland. Der Gesandte erwidert, der Entscheid sei offenbar unter «unverständlicher Ausserachtlassung aussenpolitischer Gesichtspunkte» auf Betreiben der herrschenden demokratischen Interessengruppen» getroffen worden. Pilet bestreitet, dass aussenpolitische Gesichtspunkte im Spiel waren. Die Führer der NBS hätten sich ihm gegenüber wenig loyal verhalten und sich im Ton stark vergriffen. Ihre Organisation sei unstatthaft; es bestehe eine Verbindung zwischen Frontisten und Kommunisten.

Verbindung zwischen Frontisten und Kommunisten? Dies ist neu. Pilet greift die Behauptung nicht aus der Luft. Unter den ihm zugestellten Telefonabhörberichten ist ihm einer aufgefallen, in dem der Genfer Frontistenchef Martin den Führer der moskauhörigen FSS Léon Nicole anruft und mit ihm eine Zusammenkunft vereinbart.

Pilet sagt Köcher, seine Stellung sei jetzt viel gefestigter; er werde nun manches tun können, um die von ihm gewünschte Annäherung an Deutschland herbeizuführen. Köcher antwortet, Deutschland werde sich jetzt vielleicht nicht weiter über das Verbot auslassen, aber es werde «im geeigneten Moment gegen die Schweiz vorgebracht» werden.

In Berlin ist Frölicher wütend über die unerwartete Nachricht aus Bern. Am 21. November, am Tage nach der Bekanntgabe der Auflösung der NBS, schreibt er Pilet:

Das Verbot der schweizerischen Nationalen Erneuerungsbewegung habe ich durch die Zeitungen erfahren. Eine vorgängige Orientierung, insbesondere über die Gründe der Massnahme, habe ich nicht erhalten. Obwohl die Massnahmen nicht ohne Rückwirkungen auf die deutsch-schweizerischen Beziehungen bleiben kann, hat man mich nicht um meine Ansicht gefragt. Ich nehme an, dass davon Umgang genommen wurde, weil ich wiederholt in Bern und auch von hier aus mich dagegen ausgesprochen habe. Meines Erachtens muss befürchtet werden, dass sich diese Massnahme verhängnisvoll für unser Land auswirken wird. Ich möchte Sie um die Erlaubnis bitten, nächsten Mittwoch nach Bern zu kommen, damit man mir Gelegenheit gibt über die Lage Bericht zu erstatten.

Der Gesandte berichtet, die Presse habe das Verbot als die «Legalisierung der Deutschlandfeindlichkeit der Schweiz» bezeichnet. Der Völkische Beobachter befand, dass Massnahmen wie diejenige des Bundesrats nichts gegen die unwiderstehliche Kraft «eines geschichtlichen Gesetzes» könnten. An dessen Ablauf könne man auch nichts hindern, «indem man sich aus dem Jahre 1940 in den Schatten von 1315 [Morgarten] flüchtet».

Propaganda ist eines, Aussenpolitik etwas anderes. Hitler fährt am Donnerstag, 21. November, den ganzen Tag im Sonderzug von Wien nach Berlin. Sein Interesse gilt dem Balkan. Tags zuvor hat er mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Teleki und dem italienischen Aussenminister Ciano einen Drei-Mächte-Pakt abgeschlossen. Am Freitag ist der rumänische Ministerpräsident Atonescu in Berlin, der sich diesem Pakt anschliesst. Führer und Ribbentrop sind von den Balkan-Fragen voll in Anspruch genommen, das Verbot eines unbedeutenden Nazi-Ablegers in der Schweiz wird sie nicht kümmern.

Der Schweiz-Kenner Weizsäcker ist sich seit langem im Klaren, dass mit den Nazifreunden in der Schweiz kein Staat zu machen ist. Was die deutsche Politik gegenüber der Schweiz anbelangt, bestehen zwischen der Wilhelmstrasse und der Reichskanzlei kaum Unterschiede. Berlin will einen Bundesrat, der bereit ist, mit dem Reich wirtschaftlich zusammenzuarbeiten, und eine weltanschaulich neutrale, wenn möglich weniger deutschfeindliche öffentliche Meinung vertritt.

Und die Wehrmacht? An verschiedenen, in den letzten Novemberwochen abgehaltenen Besprechungen unter OKH-Generalstabschef Halder referieren Fachkräfte über die Lage in Rumänien, Bulgarien, Albanien, Ungarn, Jugoslawien, Griechenland, Italien, Russland, Türkei, Irland, Spanien, Japan, Portugal. Kein Wort zur Schweiz. Auch kein Wort zur Schweiz im Tagebuch Goebbelsʼ, der am 20. November – Tag nach Ankündigung des Verbots – bei einem «in bester Stimmung und Haltung» befindlichen Führer ist. Am 27. November hat der Propagandaminister einen prominenten Schweizer, den weltbekannten Verfasser des Erfolgsromans «Via Mala» zu Gast:

Abend kleine Gesellschaft für John Knittel, der in Berlin zu Besuch ist und den ich seines weitreichenden Einflusses wegen etwas bearbeiten will. Wir unterhalten uns grossartig! Ein engagierter Englandfeind!

Am selben Tag ist Frölicher in Bern bei Pilet, den er nicht umstimmen kann. Der Bundesrat hat das Verbot der NBS durchgesetzt. Immerhin – dies mag Frölicher ein wenig beruhigt haben – ist keiner der NBS-Führer verhaftet und unter Anklage gestellt worden.

Der aus dem besetzten Belgien zurückgekehrte Gesandte Maxime de Stoutz verfasst im Auftrag Pilets zuhanden der Gesandtschaften in Berlin, Rom und Vichy einen Bericht über die Auflösung der NBS. Das Verhalten der NBS hätte dem Bundesrat bestätigt, dass «weitere Erörterungen mit einer Bewegung, die sich bereits als ebenbürtig verhandelnde Macht aufführte, zu keinem praktischen Ergebnis führen könnten». Die NBS-Leute hätten mit zum Teil illegalen Mitteln ein illegales Ziel, nämlich den Umsturz der öffentlichen Ordnung verfolgt. Es sei dem Bundesrat nichts übriggeblieben, als die Organisation zu verbieten.

Vor der Abfassung seines Berichts hat de Stoutz erfahren, dass anlässlich eines Empfangs der italienische Gesandte in Bern das NBS-Verbot missbilligte. Dazu schreibt ihm Pilet in einer kurzen Notiz: «Den ‹conversations de dîner› nicht zu viel Bedeutung beimessen. Nervenkrieg.» Pilet weiss, dass dem Gesandten Tamaro die NBS egal, wenn nicht gar zuwider ist. Italien will keine nationalsozialistische Schweiz.

Der Bundespräsident ist wieder selbstsicher geworden. Die innen- und aussenpolitischen Entwicklungen im späten Oktober und im November bestätigen ihn in seiner Meinung, dass er sich auf dem richtigen Weg befindet. Hauptsorge sind für ihn die englischen Überflüge. Er fragt sich auch, ob London ihn für einen unsicheren Kantonisten hält, der deutschen Forderungen nachgeben könnte. Ein Telegramm Thurnheers vom 13. November gibt ihm zu denken:

Betone erneut, dass Angriffskrieg gegen britische Inseln abgewiesen und sehr unwahrscheinlich geworden, ferner, dass Kontinentalkrieg keineswegs entschieden. Im Gegenteil britische Vormachtstellung seit Griechenkrieg im Mittelmeer bedeutend verstärkt. Die Schweiz sollte angesichts dieser Situation und der wirtschaftlichen und moralischen Einheit des Britischen Reiches, sowie der Haltung der amerikanischen Demokratien gegenüber Diktaturstaaten, politisch und wirtschaftlich bis zur Entscheidung allgemeine Zurückhaltung üben.

Pilet setzt zum letzten Satz einen Randstrich und ein Fragezeichen. Zweifelt Thurnheer am Neutralitätswillen des Bundesrats? Am Sonntag, 17. November, tut Pilet etwas Ungewöhnliches. Er schreibt seinem Gesandten einen langen handgeschriebenen Brief:

Monsieur le Ministre.

Ne vous étonnez pas de cette lettre manuscrite et surtout ne lui attribuez aucune signification inquiétante. Wenn ich selber die Feder ergriffen habe – was ich nicht gerne tue, warum soll ich dies nicht gestehen? – geschieht dies einzig, um klar zu zeigen, dass die nachfolgenden Betrachtungen meiner Art zu denken und den Zielen, die ich realisieren möchte, absolut entsprechen.

Zudem empfand ich das Bedürfnis, mich mit Ihnen etwas länger zu unterhalten als per Radiogramm. Natürlich hat dies nicht denselben Wert wie eine Unterhaltung, wie ich privilegiert bin, sie mit den Herren Frölicher, Rüegger und Stucki zu führen. Ich hätte es selbstverständlich vorgezogen, Sie zu treffen, umso mehr als seit dem Ausbruch des Konflikts und meiner Ankunft ins Politische Departement sich mir keine Gelegenheit dazu geboten hat. Natürlich habe ich daran gedacht, Sie herzubitten. Aber ich wollte Ihnen nicht ohne absolute Notwendigkeit die Beschwerden und die Gefahren einer Reise aufbürden, die beinahe zu einer Expedition geworden ist.

Ausserdem könnte eine Reise Thurnheers in die Schweiz, «von welcher Seite auch immer», als politischer Schritt interpretiert werden, was falsch wäre – «ce serait faux, bien entendu, complètement faux»:

Aber Propaganda ist heute derart geschickt gemacht, dass die unschuldigsten Absichten manchmal – bona fide, vielleicht – zu machiavellischen oder cäsarischen Intrigen entstellt werden. Kurz, für den Augenblick, gedulde ich mich und warte auf günstigere oder gebieterischere Umstände. Deshalb dieser Brief.

Pilet hat Verständnis für das gegenwärtig schwierige Leben in London, das kaum ruhiges Nachdenken erlaube:

Ich begreife auch, dass Ihre britischen Freunde, die in einen Überlebenskampf verwickelt sind, gegenüber allem, das sie stören oder ihnen schaden könnte, empfindlich sind. Ich kann mich nur darüber freuen, dass sie [die britischen Freunde] die Augen offenhalten, denn wir haben nichts zu verheimlichen. Aber sie scheinen mir entschieden ein wenig allzu anfällig auf Verdächtigungen zu sein. Selbst den albernsten Gerüchten, so scheint es mir, schenken sie ihre Aufmerksamkeit. Auswirkung des Nervenkriegs? Ich nehme es an, weil ich keine andere Erklärung dafür habe.

Albernste Gerüchte – «bruits les plus saugrenus»«Intrigues machiavéliques ou césariennes»? Pilet wird nicht verborgen geblieben sein, dass persönliche Gegner wie Hausamann und Lindt Zugang zu britischen Diplomaten oder Geheimdienstleuten in Bern haben. Es ist ihm ein Anliegen, Thurnheer über seine wahren Ideen und Absichten aufzuklären:

Es versteht sich von selbst, dass die am 25. Juni geschaffene Situation und ihre Folgen uns vor zahlreiche schwierige, delikate und völlig neue Probleme stellt. Eine umstellte Schweiz hat es zuvor noch nie gegeben. Sie muss sich, tant bien que mal, damit zurechtfinden, wenn sie sich nicht einer rapiden materiellen Schwächung aussetzen will, der unweigerlich ein moralisches Nachgeben folgen würde. Deshalb die ständigen Anstrengungen, die gemacht werden, um die wirtschaftliche Tätigkeit des Landes aufrechtzuerhalten.

Pilet betont, dass, entgegen den Behauptungen sensationshungriger oder leidenschaftlicher Stimmen, Bundesrat und öffentliche Meinung sich in einem Punkt einig seien:

Die Schweiz will, wie sie es bis jetzt getan hat, eine loyale und aufrichtige Politik der auf Neutralität gegründeten Unabhängigkeit verfolgen. Alles was im Widerspruch zu dieser Politik stünde, wäre gefährlich und zu bekämpfen. Die Gerüchte, die sie zum Voraus in Frage stellen, müssen für tendenziös gehalten und dementiert werden.

Pilet schliesst seinen «lange gewordenen» Brief mit der Hoffnung auf ein persönliches Gespräch in nicht allzu langer Ferne und mit dem Dank an Thurnheer und seine Mitarbeiter, «für alles, was Ihr unter schwierigen Bedingungen tut». Seine Gedanken seien oft «avec une affectueuse solicitude» – mit herzlicher Fürsorglichkeit – bei ihnen.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

In ähnlich entschlossener Stimmung wie bei der Abfassung seines Briefs an Minister Thurnheer macht sich Pilet Notizen für seinen Vortrag, den er an der Konferenz der kantonalen Regierungspräsidenten halten will. Diese Konferenz hat der Landammann von Aargau, Rudolf Siegrist, dem Bundesrat vorgeschlagen. Siegrist ist der erste Sozialdemokrat, der in eine aargauische Kantonsregierung gewählt wurde und sitzt dort seit 1932.

Aargau ist ein wichtiger Kanton. Siegrist wünscht eine solche Konferenz des Bundesrats mit den Regierungspräsidenten, weil seine Kantonsregierung «einen Mangel an genügendem Orientiertsein über die momentane politische und militärische Lage der Schweiz» verspürt. Zudem würden «Gerüchte militärischer und politischer Natur herumgeboten, welche geeignet sind, eine gewisse Unruhe zu schaffen».

Der Bundesrat hat dem Vorschlag Siegrists zugestimmt und delegiert Pilet, Minger und Stampfli als seine Vertreter an die Tagung. Als Pilet seine Notizen aufsetzt, ist er sich der Bedeutung der anstehenden Konferenz bewusst. Er wird nicht zu Journalisten oder zu Parlamentariern reden, die ihm ein Bein stellen möchten. Es sind verantwortungsbewusste Regierungsmänner, die auf die Sorgen und Wünsche ihrer Mitbürger achtgeben müssen, an die Pilet seine Worte richten wird. Auf der Liste der teilnehmenden kantonalen Regierungsmänner – Zürich: Nobs; Bern: Grimm; Luzern: Renggli; Uri: Walker; Schwyz: Bürgi; etc. – befinden sich viele von politischer Statur, die in ihren Kantonen eine starke Stellung haben. Ernst Nobs und Robert Grimm sind zwei Sozialdemokraten, die in ihren Regierungen mit Kollegen anderer Parteien konstruktiv zusammenarbeiten.

An der Konferenz, am Donnerstag, 21. November, trifft Pilet alte Bekannte wieder wie seinen Waadtländer Parteifreund Norbert Bosset, den Ausserrhoder Walter Ackermann, den Thurgauer Paul Altwegg, alles freisinnige Schwergewichte, die in Kommissionen des Ständerats eine führende Rolle spielen.

In seinem einführenden Referat betont der Bundespräsident, wie üblich, die Notwendigkeit der absoluten Diskretion:

Die vorgelegten Auskünfte sind zur Information der Kantonsregierungen bestimmt, die sich davon für ihre eigene Haltung und für die Zusicherungen und Empfehlungen an ihre Bevölkerungen inspirieren lassen werden. Einige davon werden ausdrücklich als vertraulich bezeichnet werden. Diese Charakterisierung muss respektiert werden. Ehrenwörtliche Verpflichtung, dass dem so sein wird.

Methodisch spricht Pilet zur a) militärischen, b) politischen und c) wirtschaftlichen Lage.

Die militärische Lage hat sich erschwert. «Strategische Entspannung, aber kein Flankenschutz mehr». Pilet hat sich bloss Stichworte notiert, weil er schon bei anderen Anlässen darüber doziert hat. Sein Ceterum censeo:

Alle Gefahr ist nicht verschwunden. An unseren Grenzen ist der Friede nicht wiederhergestellt. Waffenstillstand. Allgemeine politische Situation gespannt.

Zur politischen Weltlage hat sich Pilet notiert: «Ausweitung des Kriegs. Vereinigte Staaten. Russland». Seine Gesandten in Washington und Bukarest, Carl Bruggmann und René de Weck, gehen davon aus, dass die USA und die UdSSR früher oder später – eher später – auf Seite Englands in den Krieg hereingezogen werden. Bruggmann war bis 1938 Gesandter in Prag und hat als Schwager des US-Vizepräsidenten Henry Wallace Zugang zu verlässlichen Quellen. Er ist überzeugt, dass Roosevelt eine Herrschaft Hitlers über Europa nie zulassen wird. Der Präsident rüstet gewaltig auf, hat die allgemeine Wehrpflicht verordnet und unterstützt das Vereinigte Königreich massiv mit Waffenlieferungen.

Da die Schweiz keine diplomatischen Beziehungen zu Moskau unterhält, ist Bukarest der Horchposten des Bundesrats im Osten. De Weck hat im knapp noch neutralen, allerdings immer mehr unter deutsche Knute geratenden Rumänien gute Kontakte zu den wichtigen Botschaftern Grossbritanniens, Frankreichs, der Sowjetunion und der USA sowie zu allen führenden rumänischen Politikern, von denen er viel Vertrauliches erfährt. Beide, Deutschland und Russland, streben die Vorherrschaft auf dem Balkan an. Die Rivalität wird in einem Krieg enden, dessen ist sich de Weck gewiss.

Pilet zählt die noch verbleibenden neutralen Länder auf – «Spanien, Portugal, Balkan, Jugoslawien, Finnland, Schweden, Schweiz» – und bemerkt dazu:

Der Zustand der Neutralität wird zur Ausnahme. Er wird je länger je weniger verstanden. Die Kriegsführenden werden je länger je empfindsamer.

Zum Thema «Presse, ausländische Propaganda, Überwachung» notiert sich Pilet:

Tendenziöse Gerüchte. Sie stellen eine Gefahr dar. Die Luftangriffe auch.

Zur Wirtschaftslage:

Unser Land kann, wenigstens im Moment, einzig auf den Kontinent zählen und auf das, was vom Kontinent herkommt. Es hängt in dieser Hinsicht von den Beziehungen ab, die es mit der Achse unterhält. Unsere Haltung ist nicht verkrampft, sie ist korrekt, könnte vertrauensvoller werden. Frankreich?

Fazit des an die Regierungspräsidenten gerichteten Referats (wörtlich aus seinen Notizen):

Heikle und schwierige Situation. Verlangt Takt, Verständnis, Vorsicht, Haushalten mit den Kräften. Unser Ziel: die Unabhängigkeit. Das Mittel: die Neutralität. Der Sinn für die Realitäten. Die Tatsachen sehen, die Leidenschaften vermeiden. Auf allen Gebieten ruhig bleiben.

In der anschliessenden Diskussion, zu der sich Pilet Stichworte macht, werfen die Regierungspräsidenten verschiedene Fragen auf. Siegrist (Aargau) erkundigt sich, ob bezüglich Neutralität und Landesverteidigung im Bundesrat eine einheitliche Meinung herrsche und wie das Verhältnis zwischen ziviler und militärischer Behörde sei. Carl Ludwig (Basel-Stadt) hält das in Aussicht genommene Verbot der Kommunisten für «einen nicht sehr glücklichen Entscheid».

Fünf Tage später, am 27. November, wird der Bundesrat die Auflösung der Kommunistischen Partei beschliessen, die Büros der Partei durchsuchen lassen und ihre Mitglieder ihrer Ämter entheben. Ackermann (Appenzell-Ausserrhoden) interessiert das Finanzprogramm des Bundesrats. Nobs (Zürich) ist besorgt um die Aufrechterhaltung der Ordnung und wird Pilet wegen des Bundesanwalts schreiben. Grimm (Bern) erwähnt, dass der Mangel an Rohmaterial Arbeitslosigkeit verursache. Bosset (Waadt) fragt, ob die Bevölkerung in den Kantonen, die sich ausserhalb des Réduits befinden, im Kriegsfall evakuiert werden. Bosset kommt aus Avenches, das ausserhalb des Réduits liegt. 

Viele Stichworte sind schräg durchgestrichen, was bedeutet, dass er, Stampfli oder Minger die Fragen beantwortet haben. Was die Bundesräte den Regierungspräsidenten geantwortet haben, ist unbekannt.

Tags darauf, Freitag, 22. November, erstattet Pilet dem Bundesrat – d. h. den vier Kollegen Baumann, Etter, Wetter und Celio, die nicht dabei waren – Bericht über den Verlauf der Konferenz: 

Aus den Verhandlungen der Konferenz ging klar und deutlich hervor, dass über alle wichtigen Fragen vollständige Übereinstimmung zwischen der Eidgenossenschaft und den Kantonen besteht. Sowohl nach der Meinung sämtlicher Kantonsvertreter als nach derjenigen der drei Delegierten des Bundesrats erscheinen derartige Fühlungnahmen unbestrittenermassen als angezeigt und sollten sich je nach Bedarf wiederholen.

Nach dem Scheitern eines Arbeitsausschusses der Parteiführungen, eines «Kronrats», sieht der Bundesrat jetzt in der Konferenz der kantonalen Regierungspräsidenten das geeignete Mittel zum besseren Kontakt mit dem Volk.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 21.07.2024

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte sie auch interessieren

Fortsetzungsroman

85. «Dutti» schlägt die Tür zu

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 85: «Dutti» schlägt die Tür zu.

Fortsetzungsroman

84. Brot und Arbeit

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 84: Brot und Arbeit.

Fortsetzungsroman

83. Jongleurakt

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 83: Jongleurakt.

Fortsetzungsroman

82. Hausamanns Erzählungen

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 82: Hausamanns Erzählungen.