74. Schützenhilfe Aus «Staatsmann im Sturm»

Nicht alle sind gegen ihn. Theodor Gut in der Zürichsee-Zeitung hat Verständnis für Pilets Aussenpolitik. Gut, jetzt Präsident der nationalrätlichen aussenpolitischen Kommission, versucht den Lesern zu erklären, wieso der Bundesrat wegen einer nebensächlichen Sache derart in Misskredit geriet. In der Schweiz sei man gewohnt, über alle den Staat betreffenden Fragen zu diskutieren. Seit Kriegsausbruch habe die Presse eine «notwendige Einschränkung erfahren». Nicht abgenommen habe jedoch das Bedürfnis, «nicht nur über jeden Schritt, sondern auch über jeden Beweggrund der Regierung ins Bild gesetzt zu werden». Man wolle jede Äusserung der Behörden «deuten oder auch missdeuten». Dies sei kein Schaden, «solange rechtmässige Sorge nicht ausrastet in Kritisierwut».

Diese «Kritisierwut» sei gefährlich, «weil sie ausnahmslos in Unkenntnis oder nicht voller Kenntnis der Sachlage erfolgt»:

Wir hätten schon manche Beunruhigung kleineren oder grösseren Stils nicht gehabt und manche Kritik weniger in der Öffentlichkeit, wenn alles Volk nur die Kenntnis der Zusammenhänge hätte, die den zuständigen Kommissionen im Bundeshause jeweilen vermittelt wird. Soweit zu gehen aber ist unmöglich und das muss man verstehen lernen!

Gut kennt als Offizier in der Abteilung Presse und Funkspruch die Zusammenhänge, das Volk nicht:

Zu den manchen Schlusspunkten, die jetzt gesetzt worden sind, hier auch einer: der Bundesrat hat unser Vertrauen.

Der Bundespräsident erhält neben wüsten Schimpfbriefen auch ermutigende Zuschriften. Der 40-jährige Nationalrat Pierre Rochat, aufgehender Stern der Waadtländer Radikalen, ist empört über die «dumme und grausame Kampagne»: 

Die lächerlichen und perfiden Äusserungen gewisser Abgeordneter und die giftigen oder unflätigen Artikel einiger Zeitungen (unter denen, hélas, auch einige welsche) verdienen nicht die geringste Beachtung.

Frédéric Fauquex, Weinbauer und liberaler Nationalrat, ist während der journées pénibles in Gedanken bei Pilet gewesen:

Mich hat besonders die méchanceté und mesquinerie meiner deutschschweizerischen und einiger welschen Kollegen geschmerzt und angeekelt. Bis heute habe ich nicht viel Respekt für den Nationalrat gehabt, aber seit dieser Affäre bin ich der Überzeugung, dass diese gesetzgebende Körperschaft, deren Mitglieder in ihrer Mehrheit die tragische Situation der Schweiz nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, für das Land unheilvoll ist.

Tröstend ist für Pilet ein Brieflein seines väterlichen Freunds und Förderers, Ferdinand Porchet, des starken Manns in der Waadtländer Kantonsregierung:

Cher ami,
Was eben geschehen ist, hat mich tief traurig gestimmt. Ich möchte Ihnen meine ganze Sympathie ausdrücken. Man sagt es sei besser, eine Ungerechtigkeit zu erleiden, als sie zu begehen, aber Undankbarkeit ist immer schwer zu akzeptieren. Am Sonntag hat ein wahrer Tornado das pays de Vaud überquert, der alles geschüttelt und die Seebrandung aufgewühlt hat. Es schien, ob nichts standhalten würde. Und siehe da, seit Montag ist das Land ruhig, in die Helligkeit einer glänzenden Sonne gebadet, deren Strahlen eine Atmosphäre durchziehen, die von bewundernswerter Klarheit ist.
Ich wünsche Ihnen solche Tage nach den schmerzlichen stürmischen Stunden.
Très amicalement
F. Porchet

Auch aus der Deutschschweiz gibt es positive Reaktionen. Hans Sulzer war Schweizer Gesandter in Washington 1917-20, ist Verwaltungsratsvorsitzender der Gebr. Sulzer AG und Chef der Sektion Eisen und Maschinen im Kriegs-, Industrie- und Arbeitsamt. Da er den auf Manöverbesuch weilenden Pilet nicht treffen konnte, schreibt er ihm, «was ich auf dem Herzen habe»:

Ich empfinde die Haltung von Parlament und Presse Ihnen gegenüber als eine sehr wenig würdige (und in diesen schweren Zeiten dem Land ausserordentlich gefährlich) und möchte Ihnen versichern, dass weite Kreise der gleichen Ansicht sind und Ihnen nach wie vor ihr volles Vertrauen entgegenbringen.

Schulthess ermutigt seinerseits Pilet zum Weitermachen:

Als ich Sie neulich abends traf, äusserten Sie nebenbei, Sie hätten nun nächstens genug, was ich auch verstehe. Aber ich betrachte mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, dass Sie nicht das Recht haben, sich zurückzuziehen. Dies würde der ganzen aufgebauschten Angelegenheit noch eine grössere Wichtigkeit verleihen und nach meiner Meinung das Verhältnis zu Deutschland ungünstig beeinflussen. Sie geniessen dort Vertrauen. Also müssen Sie aus patriotischer Pflicht ausharren.

Die Frontistenaudienz hat auch Gonzague de Reynold zu denken gegeben. Der 60-jährige Schlossherr von Cressier, «zu mager und zu nervös, um die Kälte zu ertragen», erholt sich standesgemäss im Hotel Esplanade in Locarno. Er sieht in der Affäre eine «tiefe historische Bedeutung»: das Land stehe in einem «Prozess der Vergreisung und der Auflösung». Die bisherigen Parteien «weder auf ihrer Linken, noch auf ihrer Rechten» liessen etwas Neues zu. In einem langen Brief an Pilet vergleicht de Reynold die Entwicklung mit derjenigen in den Patriziaten der Kantone Fribourg und Bern, wo die dort herrschenden Familien zu sterilen Oligarchien verkamen.

De Reynold findet, le Président habe wahrscheinlich eine nebensächliche Ungeschicklichkeit begangen, aber es sei schlimm, wenn man von einem Regierungschef Unfehlbarkeit erwarte. Bilanz de Reynold:

Das Parlament und die Parteien haben einen groben Fehler begangen.
Der Präsident hat seine Stellung in der Innenpolitik zweifellos geschwächt, aber er hat sie – und diejenige der Schweiz – in der Aussenpolitik gestärkt.
Möge er durchhalten und übe er Geduld! Was ihm momentan schadet, wird ihm – und der Schweiz – nützen, wenn die Stunde kommt.
Und haltet mit ihm durch!

Freude dürfte Pilet der Brief eines jungen Soldaten gemacht haben, den er in den Tagen nach seiner Demütigung durch das Parlament zu lesen kriegt:

Herr Präsident,
die Worte, die Sie anlässlich des National-Feiertages und der Eröffnung des Comptoirs an uns richteten, haben in den Herzen der schweizerischen Jugend eine begeisterte Aufnahme gefunden.

Der Briefschreiber schildert dem Bundespräsidenten die Stimmung in seiner militärischen Einheit:

«Wir müssen den alten Menschen ablegen…» Diese Worte haben Sie als Präsident eines 4- Millionen-Staates in einer bedeutungsvollen Stunde selbst ausgesprochen. Wir erkannten mit Ihnen diesen geschichtlichen Moment der Abwendung von all dem, was uns in der Vergangenheit vielleicht nützlich geschienen hat, in der Gegenwart jedoch als verbraucht und überholt allein noch in einem politischen Museum Zeugnis ablegen kann von einer verflossenen Zeit. Soll die Schweiz nach dem Beispiel der französischen Republik erst dann, wenn es zu spät ist, von einem politischen, überstürzten und unfruchtbaren Erneuerungswahn befallen werden, der einem kläglichen Ausweichen vor dem Druck einer ausländischen Macht ähnlich sieht? Es wäre dies das Ende unserer ruhmreichen Geschichte.

Im Namen von «Kameraden, die sich um mich scharen und unter meiner Führung stehen,» bittet der junge Soldat Pilet um eine Audienz:

Wir grüssen Sie, hoch geachteter Herr Präsident, mit der Versicherung, dass es in der Schweiz noch eine Jugend gibt, die sich stark genug fühlt, um zu glauben, zu gehorchen und sich einzusetzen für eine neue grosse und erhabene Zeit, für ein neues, aus stolzen Traditionen wiedergeborenes Vaterland.
Roman Brodmann
Privatadresse: Arlesheim, Rüttiweg 44. Jetzt: Brodmann Roman, Füsilier i/Grz-Bat.Det. 247 5. Zug. Feldpost.

Ob Pilet den 20-jährigen Füsilier empfangen hat, ist nicht bekannt. Brodmann wird in den Nachkriegsjahren ein vielseitiger, «nonkonformistischer», vor allem armeekritischer Journalist, Cabaretautor, Filmemacher und Fernsehmoderator, dessen preisgekrönte Arbeit nicht zuletzt in Deutschland Beachtung finden wird.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Auch unter hohen Offizieren findet Pilet Verteidiger. Der als hervorragender Truppenlehrer geschätzte Oberst i. Gst. Hans Frick hat als einer der Ersten das Réduit als strategische Lösung vorgeschlagen. Er schickt Pilet den Entwurf eines für die NZZ gedachten Artikel, der den Frontistenempfang verteidigt, und bittet Pilet um die Erlaubnis, den Artikel zu veröffentlichen. Pilet antwortet:

Es freut mich festzustellen, dass man mich in der Armee nicht als einen Verräter ansieht, weil ich mich bemühe, die politischen Gefahren, welche unser Land bedrohen können, zu beseitigen, Gefahren, die zu einem guten Teil einer Psychose zuzuschreiben sind, von der wir uns befreien müssen.

Pilet würde es vorziehen, wenn Fricks Artikel nicht erschiene. Er befindet, wobei ihm die Metaphern durcheinandergeraten:

Die Wogen glätten sich in diesem Augenblick. Der Lärm verstummt. Fachen wir sie nicht wieder an. Wir wissen nicht, welches ihr Widerhall sein könnte.

Ein weiterer Brief auf dem Tisch des Bundespräsidenten ist datiert «Hotel Baur au Lac, Zürich 20. 9». Der Absender Eugen Bircher, Kommandant der 5. Division, hat anlässlich der Armeemanöver Pilet in Rapperswil getroffen und ihm ein Brouillon seines neusten Vortrags überreicht. Divisionär Bircher ist auch Militärhistoriker und Chefredaktor der Allgemeinen Schweiz. Militärzeitschrift. 

Bircher, im Privatleben Chefarzt am Aargauer Kantonsspital, hat eben in Zürich den mit ihm befreundeten Berliner Chirurgen Prof. Sauerbruch gesprochen. Er erinnert in seinem Brief Pilet daran, dass Sauerbruch «ein grosser Verehrer und Freund der Schweiz» sei. Da der Professor (der auch Hitler behandelt) in höchsten deutschen Führungskreisen verkehre, wäre er ein nützlicher Gesprächspartner für den Bundesrat:

Ich schreibe nicht in seinem Auftrage, würde es aber für sehr zweckdienlich halten, wenn Sie ihn zu sich bescheiden würden oder jedenfalls einen Ihrer hohen Beamten sich mit ihm unterhalten würde. Es könnte nur im Interesse unseres Landes sein.

Pilet antwortet:

Was Ihren Freund von der Chirurgenzunft anbelangt, so wird man mich vollkommen über die nützlichen Informationen unterrichten, die er uns geben kann.

Der vom Frontistenempfang gebrannte Pilet schiebt den berühmten Prof. Sauerbruch lieber an einen Beamten ab, als ihn selber zu empfangen.

Der Bundespräsident schuldet Bircher noch in einer anderen Frage Antwort. Der Divisionär möchte eine Einladung zu einer privaten Studienreise nach Deutschland annehmen. Als Pilet dem Bundesrat den Wunsch Birchers vorlegt, hat der Rat nichts dagegen. Immerhin hält es der Bundesrat für nötig, dass der General Bircher «präzise Instruktionen» gebe. Pilet schreibt deshalb Guisan einen persönlichen Brief:

Mon cher Général,
Der Bundesrat ist, wie Sie und ich, nicht ohne Beunruhigung über die «Betrachtungen», «Scherze», «Aphorismen» und «Reden», welche Oberstdivisionär Bircher während seiner chirurgischen Reise in Deutschland äussern könnte. Der ganze Gewinn einer Kontaktnahme könnte durch unangebrachte Reaktionen ruiniert werden. Es ist folglich unerlässlich, dass er von Ihnen sehr strikte Empfehlungen erhält und dass er sich ehrenwörtlich verpflichtet, sich daran zu halten. Pas de … je crois qu’on dit libation en français (frei übersetzt: keine Zechgelage). Keine kommunikative Wärme an Banketten. Keine vertraulichen Mitteilungen zwischen vier und fünf Uhr in der Früh. Keine politischen Diskussionen. Beobachten, hinschauen, hören, die Ohren offen und die Lippen geschlossen halten.

Der gesellige Truppenführer Bircher haut gelegentlich über die Stränge. Pilet schreibt Guisan in ungezwungenem Ton. Beim Besuch der Septembermanöver sind sich die oft zerstrittenen zwei Waadtländer offenbar wieder nähergekommen. Im gleichen ironischen Stil geht es in Pilets Brief weiter. Bircher könne nach seiner Heimkehr das Entgangene – Pilet meint damit «das Schwatzen und Schöppeln» – «bei Ihnen oder mir nachholen»:

Es wird dann nicht mehr die gleiche Bedeutung haben. Dieses Mal hat er Gelegenheit zu beweisen, dass er nicht nur als Soldat die Kraft des Löwen und als Diplomat die Klugheit der Schlange hat, sondern auch, dass ein Schweizer durch seine intellektuelle und körperliche Nüchternheit das Kamel besiegen kann.

Das Schlusswort des Bundespräsidenten ist wiederum nüchtern:

Er [Bircher] darf die Gelegenheit nicht verpassen und sich seiner grossen Verantwortung, im Inneren und im Äusseren, Rechnung tragen. Wohlgemerkt, niemand, nicht einmal sein Generalstab oder seine Nächsten, dürfen von einer Mission in Deutschland sprechen, was übrigens nicht der Realität entsprechen würde. Er ist auf Reisen, dies ist alles.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 16.06.2024

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