61. Gestörte Ferien Aus «Staatsmann im Sturm»

Nach hektischen vierzehn Tagen kann der Bundespräsident am Mittwoch, 7. August, endlich zusammen mit Madame Pilet auf seinen Bauernhof Les Chanays fahren, wo er die nächsten sechs Tage verbringt. Vor der Rückreise nach Bern notiert er in sein lange vernachlässigtes Rechnungsbuch:

Die Umstände haben es mir nicht erlaubt oder der Mut dazu hat mir gefehlt, dieses livre de raison weiterzuführen. Sie sind nicht leicht gewesen, obschon unser Land wundersamerweise – dies ist das wahre Wort – vom Krieg bis jetzt verschont worden ist. Aber zu zwei oder drei Malen – Mai und Juni 1940 – war es nahe daran, in das Unwetter hereingezogen zu werden … dies ist übrigens eine andere Geschichte, wie Kipling sagen würde, und die nicht bloss Les Chanays interessiert.

Im gleichen Eintrag vom 12. August schreibt Pilet, dass der «Wunsch – sei es auch nur für einige Stunden – der Politik zu entfliehen», ihn in die Chanays geführt habe:

Der Präsident [Pilet] ist nicht nur ohne jede Vizepräsidentschaft – niemand entlastet ihn in dieser Beziehung –, aber er muss den Vorschlägen des Volkswirtschaftsdepartements doppelte Aufmerksamkeit schenken und die Wirtschaftsverhandlungen mit dem Ausland verfolgen, als ob sie von ihm abhingen. Kommt dazu, dass die «Präsidentschaft» wegen der Ereignisse und der vorübergehenden Ausfälle im Bundesrat eine stark angewachsene Bedeutung erhalten hat, und dass die sieben Monate bis zum Rücktritt Obrechts (31.7.40) die schwersten gewesen sind, die ich kannte. Wahrhaftig, ich bin erschöpft.

Das Politische Departement, dem Pilet seit März vorsteht, wird gefordert wie nie zuvor:

Sobald die militärischen Operationen in Europa wieder aufgenommen wurden, stand das Departement Tag und Nacht in der Bresche, während der Woche und am Sonntag – Samstag abends und Sonntag insbesondere –, war an der Arbeit und in Gefahr.

Kommt dazu, dass die Beziehungen zur Armee «viel Zeit, Geduld und Nachsicht kosten»:

Sie sind bei uns so schlecht geregelt und der General wurde so «verwöhnt»; hélas für das Land, wenn etwas geschehen würde.

Der Bundespräsident täuscht sich, wenn er hofft, in Les Chanays Entspannung zu finden. Der Hof ist vernachlässigt, dreckig, der Garten schlecht unterhalten. Pilets Bundeshauschauffeur Jaccoud «tut das Minimum», um wieder ein wenig Ordnung zu machen. Ärgerlich ist das Benehmen des Meisterknechts und seiner Frau: Marie ist gleichzeitig «impertinent und träge». Mit Frédéric hat Pilet eine recht heftige Auseinandersetzung. Der Meisterknecht ist aus dem Militärdienst «gleichgültig und flâneur (bummelig)» zurückgekehrt, er, der ein derart fleissiger Arbeiter war. Pilet teilt Frédéric mit, dass er nicht beabsichtige, seinen Vertrag tel quel zu verlängern.

Die Pilets fahren am Montag «enttäuscht, unzufrieden und wenig ausgeruht» zurück. Wenig ausgeruht auch wegen der englischen Bomberflotillen, die auf dem Weg nach Italien Les Chanays überflogen. Die Eheleute brauchen echte Erholung und beschliessen, sie bei einer Kur im «Verenahof» in Baden zu suchen. Ungestört ist der Bundespräsident auch dort nicht. Am Freitag, 16. August, liest Pilet den Bericht Etters über dessen Unterredungen mit den Gesandten Köcher und Tamaro über deren Protestnoten gegen Guisans Rütlirede. Eine Stelle wird ihm aufgefallen sein:

Ich unterhielt mich alsdann mit Hrn. Tamaro über verschiedene andere Fragen (Injurierung von Italienern in der Schweiz durch die Bezeichnung «Tschingg», kulturelle Beziehungen zu Italien usw.). Als sich Hr. Tamaro von mir verabschiedete, bemerkte er mir noch rein persönlich, dass man seine Démarche nicht allzu hart auffassen möchte.

Pilet kann aus dem Schlusswort in Etters Bericht schliessen, dass sein Stellvertreter sich gut aus der Affäre gezogen hat:

Beide Herren [Köcher und Tamaro] führten die Verhandlungen in ruhigem, in deren zweiten Teil eher freundschaftlichem Ton. Ich selbst hatte mich zu absolut ruhiger Entgegennahme der Erklärungen gezwungen; ich muss jedoch gestehen, dass es mir Einiges kostete, ruhig und freundlich zu bleiben, da sich der ganze Mensch und insbesondere der Offizier in mir aufbäumte gegen die mir zugefallene Aufgabe, seitens ausländischer Mächte einen meines Erachtens sachlich unberechtigten Protest gegen einen Tagesbefehl unseres Generals zuhanden des Bundesrates entgegennehmen zu müssen. Durum officium!

Am gleichen Tag, an dem er Etters Bericht liest, studiert er einen ihm ebenfalls nachgesandten Brief des Generals (vom 13. August), dem auch eine Stellungnahme Massons mit Unterlagen beigelegt ist. Nachdem er die Briefe gelesen hat, schreibt Pilet einen «persönlichen und vertraulichen» Brief an Minger – vertraulich, ja, persönlich, nein. Pilet schreibt nicht dem Freund Minger, sondern Monsieur le VicePrésident:

Zu meinem grossen Bedauern zwingen mich die Umstände, das Dossier über die durch den Rütli-Armeerapport und den Armeebefehl ausgelösten Reaktionen meinem Stellvertreter, Monsieur le Conseiller fédéral Etter, zu überlassen, der sich dessen seit Vorgestern angenommen hat.

Pilet schickt Minger auch den Brief des Generals zurück, der sich teilweise auf «unser gemeinsames Gespräch vom Samstag, 3. August, bezieht». Minger werde «sofort begreifen», dass er selber die «fragliche Affäre» – er meint damit die diplomatischen Folgen des Rütli-Rapports – nicht behandeln könne. In Pilets Entwurf zum Brief findet sich der Satz:

Weil der General infrage gestellt ist und man behauptet, dass ich «der gerechten Popularität des Armeekommandanten müde» wäre, geziemt es sich nicht, dass ich diese Angelegenheiten persönlich behandle.

Die weit vertretene Meinung, er sei auf Guisans Beliebtheit im Volk neidisch, wurmt ihn. Er hält sie für ungerecht. In der abgesandten Fassung seines Briefs an Minger verzichtet Pilet auf diesen persönlichen Schlenker. Er schreibt sachlich knapp:

Deshalb bitte ich Sie inständig so gut zu sein, a.) mich diesbezüglich als Bundespräsident zu vertreten und in dieser Funktion im Schosse der aussenpolitischen Delegation zu sitzen, b.) meinen Stellvertreter, zusammen mit dieser Delegation, die Vorschläge für die zu gebende Antwort schriftlich oder mündlich vorzubereiten, c.) meinen Urlaub um acht Tage zu verlängern. Ich habe ihn dringend nötig.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Die Kollegen erfüllen Pilets Wunsch. Sie antworten auf seinen formellen Brief am folgenden Mittwoch, 21. August, freundschaftlich und in wenig amtlichem Ton. Etter berichtet, dass er am Montag mit Minger und am Dienstag mit Guisan über die «Angelegenheit» – die Beantwortung der Noten der beiden Achsenmächte – Rücksprache genommen habe.

Etter berichtet weiter, dass er den englischen Gesandten kommen liess, «um ihm über die wiederholten Verletzungen unseres Luftraums durch englische Fliegerstaffeln ernste Vorstellungen zu machen». Kelly habe ihm versprochen, sein Möglichstes zu tun, die von der Schweiz in London unternommen Schritte zu unterstützen. Am Dienstag sei die Antwort der englischen Regierung eingetroffen:

Seither sind neue Überfliegungen unterblieben. Ob wegen unseres Protestes oder wegen des schlechten Wetters? Oder haben beide zusammengewirkt?

Schliesslich hat Etter noch Trauriges zu vermelden:

Dass der arme Herr Obrecht heute gestorben ist, weisst Du. Für unseren lieben Freund und Kollegen bedeutet der Tod eine Erlösung. Aber es ist doch tragisch, dass der Mann, der bei seinem Eintritt in den Bundesrat von Kraft und Gesundheit strotzte, in so jungen Jahren von uns Abschied nehmen musste. Herr Minister Bonna hat mir heute mitgeteilt, dass es Dir nicht möglich sein werde, an der Beerdigung teilzunehmen. Du seiest im Bett. Ich hoffe, es handle sich nur um einen Kuraufenthalt und nicht um eine weitere Erkrankung. Pflege Dich gut und führe Deine Kur zu Ende, ohne Dich stören zu lassen. Ich warte gern und harre ruhig aus, bis Du zurückkehrst.

Am gleichen Mittwoch, 21. August, meldet sich brieflich auch Minger, der im Emmental Ferien macht, bei Pilet:

Mein Lieber,

Zu Deiner vorläufigen Orientierung kurz folgendes:

1. Letzten Montag besuchte mich Bundesrat Etter in meinen Ferien auf Lüdernalp. Wir haben die zu treffenden Massnahmen den «Beleidigten» [gemeint sind Deutschland und Italien] gegenüber besprochen. Die Sache dürfte in Ordnung kommen. Geärgert habe ich mich über die Überempfindlichkeit und das in alles Hineinreden ausländischer Herrschaften.

2. Das Schreiben des Herrn Generals an Dich habe ich Deinem Stellvertreter übergeben.

3. Habe es übernommen, unserem Kollegen Obrecht die Abschiedsrede namens des Bundesrats zu halten.

Bis jetzt hatten wir prächtiges Ferienwetter. Heute ist es unfreundlich. Nächsten Dienstag werde ich wieder zur Stelle sein. Hoffe, dass Du Dich gut erholt hast. Kann nicht länger werden, weil der «Pösteler» auf meinen Brief wartet.

Herzliche Grüsse!

Dein R. Minger


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 17.03.2024

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