50. Die Verschwörung des Lull zu Luzern Aus «Staatsmann im Sturm»

Am Sonntag, 21. Juli, findet im Luzerner Schweizerhof ein geheimes Treffen von zwanzig Offizieren statt – alles Deutschschweizer, mehrheitlich Generalstäbler im Hauptmannsrang und Nachrichtenoffiziere. Zwei der wichtigsten Schweizer Geheimdienstleute, Hptm. Max Waibel, Leiter der Nachrichtensammelstelle 1, und Hptm. Alfred Ernst, Leiter des Büro Deutschland, haben vertrauenswürdige Offizierskameraden zum Rapport nach Luzern aufgeboten.

Hauptredner Hptm. Alfred Ernst beschreibt die herrschende defaitistische Stimmung im Land und in der Armee. Seit der Kapitulation Frankreichs habe der Bundesrat bedenkliche Schwächezeichen gezeigt: Die verantwortungslose Demobilmachung, wenn an der Grenze angriffsbereite deutsche Truppen stehen; Pilets verschwommene Rede; die neutralitätswidrige Auslieferung abgeschossener deutscher Flugzeuge und die Freilassung ihrer Piloten. Um Gegensteuer zu geben will Hptm. Ernst einen geheimen «Offiziersbund» ins Leben rufen. Sein Zweck:

1. Die Propagierung des Widerstandswillens bis zur Einheit. 2. Die Verhinderung einer Kapitulation unter allen Umständen. 3. Die Verbreitung und Durchführung der Reformarbeiten für den Aufbau der Armee nach dem Krieg.

Die meisten anwesenden Offiziere teilen Ernsts Lagebeurteilung. Einige sind skeptisch. Auf Hptm. Uhlmann wirkt die Rede «schwülstig» und zu «pessimistisch». Als Kommandant eines Gebirgsfüsilier-Bataillons kennt er seinen Kameraden Ernst von früher «als impulsiv und zur Übertreibung geneigt». Hptm. Heberlein seinerseits findet den Vortrag «reichlich romantisch».

Als zweiter Redner beschreibt Hptm. Hausamann, aus dem Stegreif und in grellen Farben, die ihm brenzlig scheinende internationale Lage. Die Zuhörer erhalten den Eindruck, ein deutscher militärischer Einmarsch stehe unmittelbar bevor. Für die Organisation des Widerstands ist laut Hausamann kaum mehr Zeit.

Dann wird den Teilnehmern eine von Ernst entworfene Erklärung herumgereicht:

Wir wollen unter allen Umständen bewaffneten Widerstand leisten, wenn vom Ausland Ansinnen an die Schweiz gestellt werden, die in irgend einer Weise ihre Unabhängigkeit oder ihre nationale Würde gefährden. Wer nach dem Erfolg des Widerstandes fragt, ist ein Verräter.

Wer einverstanden ist, schreibt auf der Rückseite seinen Namen hin. Hptm. Walter Allgöwer, Dr. phil. und Instruktionsoffizier, flüstert scherzhaft zu seinem Nebenmann, ob Tinte wohl genüge oder ob man mit dem eigenen Blut unterschreiben müsse.

In der Diskussion wird besprochen was zu tun sei, wenn der Bundesrat kapitulieren wolle. Man werde zuerst dem General die Beweise für den «unmittelbar bevorstehenden Verrat» vorlegen. Sollte der General unterlassen, den Befehl zum Kampf zu geben, werde man selber mit dem am Radio ausgegebenen Stichwort «Nidwalden» den Kampf auslösen.

Am Ende der Versammlung gehen die Teilnehmer mit unklaren Instruktionen nach Hause. Wie soll der Staatsstreich, und um einen solchen würde es sich im Fall einer Kapitulation des Bundesrats handeln, genau ablaufen? Hptm. Ernst will Einzelheiten bis zum 4. August, der nächsten Geheimtagung, geklärt haben. Zu den provisorischen Plänen gehört, dass eine von Hptm. Allgöwer geführte Rekrutenkompanie den Bundesrat in «Schutzhaft» nimmt und handlungsunfähig macht. Oblt. Gerhart Schürch, Sohn des Bund-Chefredaktors, will mit seiner Kompanie den Kurzwellensender Schwarzenburg besetzen.

Wer ist Hauptmann Ernst, Kopf und Herz des Offiziersbunds? Der jetzt 35-jährige Afred Ernst – von seinen Freunden «Lull» genannt – wuchs als Sohn eines Oberrichters und einer aus dem Daig stammenden Baslerin im Berner Kirchenfeld auf. Er studierte Jus und war ein Lieblingsschüler des eminenten Staatsrechtsprofessors Walther Burckhardt. Als juristischer Beamter in Pilets Eisenbahndepartement arbeitete er am «Verkehrsteilungsgesetz» mit. Nach seiner Heirat mit der Tochter eines preussischen Finanzbeamten eröffnete er in Bern ein Advokaturbüro.

Ernst ist ein «Militärkopf», der, obwohl körperlich unbeholfen und kurzsichtig, leidenschaftlich gern Dienst tut. Seine Gebirgsinfanteristen verehren ihren Kompaniekommandanten, der nichts von ihnen verlangt, das er nicht selber auf sich nimmt. Bei Kriegsausbruch holte ihn Oberst Masson in den Generalstab und machte ihn zum Chef des in Luzern angesiedelten «Büros Deutschland».

Der von Ernst ausersehene «Führer» des Offiziersbunds ist am 21. Juli nicht dabei. Ernst will seinen noch geheim gehaltenen Namen an der nächsten Sitzung bekannt geben. Ursprünglich hatten Ernst, Schürch und Allgöwer Oberst Gustav Däniker als Chef des Bundes ausersehen. Däniker, Leiter der Schiessschule Walenstadt, ist ein hervorragender Truppenausbildner, glänzender Vortragsredner und aufrechter soldatischer Geist. Am 17. Juni, dem Tag, an dem Frankreichs Niederlage besiegelt war, schrieb Ernst an Däniker:

Ich wende mich an Sie, weil ich glaube, dass Sie vielleicht die Organisation des Widerstands an die Hand nehmen können. Selbstverständlich ist der Kampf auf die Dauer ausichtsslos. Es genügt aber, dass wir uns einige Tage schlagen … Dann haben wir alle Aussicht, wieder aufzustehen, denn das 1000-jährige deutsche Reich wird kaum länger als 30 – 40 Jahre dauern.

Däniker hielt nichts von Ernsts Idee: Eine Kampfaufnahme im Innern würde dem Land unermesslichen Schaden bringen. Er antwortete dem Kameraden am 18. Juni:

Erste Voraussetzung ist für uns, das grosse Weltgeschehen zu begreifen. Hätten wir uns früher die Mühe genommen zu verstehen, anstatt dauernd überhebliche Belehrungen zu erteilen oder gar zu hetzen, dann brauchte uns heute nicht so bange zu sein. Nicht darum geht es heute, den Widerstand anzufachen, sonst zuerst einmal darum, uns klar zu machen, was wir zu verteidigen haben, und das ist eben nicht – wie viele glauben – ein Museum aus dem 19. Jahrhundert. Die Lage für uns ist ernst, ich gebe Ihnen hierin recht. Wir müssen zu einer Erneuerung von grundauf kommen.

Nachdem Ernst und seine Mitverschwörer gemerkt hatten, dass Däniker deutschfreundlich eingestellt ist, hielten sie Ausschau nach einer anderen Führungspersönlichkeit. Ihre Wahl fiel auf Wilhelm Werder, Stabschef in der 5. Division. Er ist Oberstleutnant und steht hierarchisch zwei Stufen höher als die eigentlichen Führer der Verschwörung, Ernst, Hausamann und Waibel.

Für Alfred Ernst – seine Freunde nennen ihn «Lull» – genügt Widerstand allein nicht. Er will das Schweizer Milizsystem radikal überholen, wie er in einem Brief an seinen Chef Oberst Masson ausführt. Die neuen Rekrutenjahrgänge sollen zwei Jahre lang ununterbrochen Dienst tun und von einem «aus den besten Elementen zusammengesetzten Korps von Berufsoffizieren» zu einer professionellen, kampfbereiten Truppe ausgebildet werden. Die Milizarmee hätte bloss eine unterstützende Rolle. Eine kriegerischen Anforderungen gewachsene Armee könne allerdings nur von einem «autoritär geleiteten Staat» verwirklicht werden:

Es würde genügen, den Chef der Heeresleitung zu ernennen (einen wirklichen Führer mit militärischen Fähigkeiten und Energie – es gibt solche Offiziere auch bei uns). Es müsste gleich wie in den Jahren 1935 bis 38 in Deutschland gearbeitet werden… Wer versagen würde, käme sofort weg oder ins Gefängnis.

Mit seiner Forderung nach einer Verjüngung des Offizierskorps befürwortet Ernst indirekt auch die Ersetzung des mittlerweile 65-jährigen General Guisan:

Die deutschen Führer haben bewiesen, dass ein Chef, der nicht persönlich in vorderster Linie mitkämpft und seine Truppe mitreisst, nicht mehr in der Lage ist zu führen. Die meisten unserer hohen Offiziere sind weder frisch noch beweglich genug, um von Grund auf umlernen und wirklich Neues schaffen zu können. Warum sollten nicht Offiziere zwischen 40 und 50 Jahren Divisionen, Armeekorps und sogar die Armee führen können? Deutsche Generäle haben es gekonnt.

Der Idealist Ernst – «ich hasse die Politik» – sieht die Chance für die Schaffung des von ihm herbeigewünschten «neuen besseren Staats» anfänglich im überparteilichen Gotthard-Bund, dem er die beträchtliche Summe von 50 000 Franken spendet. Es ist fast sein ganzes Privatvermögen – «wenn die Nazis kommen, ist sowieso alles zum Teufel».

Ernsts Offiziersbund operiert zweigleisig. Einerseits wird in der Armee das geheime Gerüst einer «Widerstandsarmee» aufgebaut. Andererseits wird propagandistisch auf die öffentliche Meinung eingewirkt. Die Organisation des geheimen Widerstands ist Sache Ernsts. Für die Propaganda sorgen hauptsächlich Hausamann und mit der Zeit zunehmend auch Korporal August R. Lindt. 

Lindt ist der einzige Nichtoffizier unter den Verschwörern. Lindt und Ernst, «Gus» und «Lull», kennen sich, seit sie im Berner Freien Gymnasium wegen Unmusikalität vom Singen dispensiert wurden und die freie Stunde zu gemeinsamen Museumsbesuchen und literarischen Gesprächen benutzten. Lindt gehört der gehobenen Berner Bourgeoisie an. Die Familie ist durch ihre Schokoladefabrik, die am Jahrhundertende mit Sprüngli in Zürich fusionierte, reich geworden. Lindt studierte Jus und arbeitete dann als Bankangestellter und Journalist.

Von Jugend auf von Entdeckungsreisen fasziniert – der berühmte schwedische Schriftsteller Sven Hedin war sein Held – liess er sich als Reporter nach Afrika und Asien entsenden. Bei Kriegsausbruch lebte er mit seiner englischen Frau und zwei Kindern in Richmond. Er kehrte in die Schweiz zurück, um als Fahrkorporal – Pferde zogen die Kanonen – bei seiner Artilleriebatterie Aktivdienst zu leisten. Als Ende 1939 die Landwehrjahrgänge entlassen wurden, zog es den Journalisten in den Winterkrieg nach Finnland. Von dort berichtete er für Schweizer Zeitungen – hauptsächlich direkt aus seinem Hotel – über die letzten Tage des heldenhaften Widerstands der Finnen.

Nach seiner Rückkehr in die Schweiz sah er ein, dass «die schale Schreiberei» für ihn nicht der richtige Beruf sei: «Ich sehnte mich danach, auf die Geschehnisse Einfluss nehmen zu können.» Und jetzt hockte er (nach der 2. Mobilmachung vom 10. Mai) tatenlos im Gasthof von Aubonne herum. Verzweifelt schrieb er seinem alten Schulfreund Lull: «Weiss die Armee wirklich nichts Gescheiteres für mich zu tun, als mich in diesem Mannschaftsdepot vor Langeweile verfaulen zu lassen?» Sie wusste etwas Gescheiteres.

Ein halbes Jahrhundert später wird sich August Lindt, mittlerweile Botschafter a. D. und ehemaliger UNO-Flüchtlingshochkommissar, erinnern, wie er zum Nachrichtendienst nach Luzern kam. Ausschlaggebend soll die Pilet-Rede vom 25. Juni gewesen sein:

Zwei Tage nach der französischen Kapitulation war ich um die Mittagszeit im Marzilibad, während der Sommerzeit der egalitärste Ort der Bundesstadt. In der Badehose sind sich alle Männer gleich. Ich war von der Dählhölzlibrücke hinuntergeschwommen und schüttelte eben die Wassertropfen ab, als das Radio die Rede des Bundespräsidenten ankündigte:

Ich wandte mich an einen Nachbarn, der sich neben mir auf der Pritsche sonnte. «Eine unmögliche Rede», sage ich. «Warum?» war die Antwort. «Ich finde sie klug und schön». Ich wandte mich an meinen Nachbarn zur Rechten. «Was halten Sie von dieser Rede?» «Sie ist staatsmännisch», sagte er. «Wir müssen jetzt vorsichtig sein.» Aus allen Wolken gefallen, telefonierte ich Ernst. Bevor ich noch ein Wort äussern konnte, legte er los: «Hast du die Pilet-Rede gehört? Unmöglich! Wir müssen uns sofort sehen.»

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter BornHanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Aus dem Lautsprecher des Marzilibads wird Etters und nicht Pilets Stimme ertönt haben. Es ist möglich, dass der eben der Aare entstiegene Lindt genau hinhörte und die deutsche Version der Rede tatsächlich «unmöglich» fand. Falsch hingegen ist, dass Pilets Rede den Ausschlag für die Offiziersverschwörung gab. Ernst hatte seinen Plan schon ausgeheckt, als sich die französische Kapitulation abzeichnete, und Lindt hatte schon vorher um eine Versetzung nachgesucht.

Am 9. Juli tritt Landsturmkorporal Lindt im Büro Deutschland seinen Dienst an. Er liest die deutschen Zeitungen und Illustrierten und schreibt täglich einen zusammenfassenden Bericht. Dabei lernt er die von Goebbels gesteuerte Triumph und Giftpropaganda kennen. In Luzern machte Korporal Lindt die Bekanntschaft der schneidigen Hauptleute Waibel und Hausamann. Als über 90-Jähriger wird er sich an die beiden längst verstorbenen Kameraden erinnern:

Waibel imponierte mir sofort. Seine scharf geschnittenen Gesichtszüge drückten Vitalität, Scharfsinn und Kühnheit aus. Hausamann musterte mich mit einer forschen Intensität, wie ich vorher und seither nie inspiziert worden bin. Auffallend an ihm die merkwürdig grossen Ohren und die dominierende Falkennase unter hoher Stirn, ein Gesicht, das nicht leicht zu vergessen ist. Hausamann begrüsste mich mit vollendeter, aber zurückhaltender Höflichkeit … Nach einigen Tagen entwickelte sich zwischen uns ein gutes Einvernehmen, das durch unsere gemeinsame Liebe zu Pferden angebahnt wurde.

Lindt beschreibt Hausamann als «gütigen, verständnisvollen Chef», als «Kenner guter Weine und edler Zigarren». Im Benehmen «etwas formell», soll der Leiter des privaten Nachrichtenbüros «Ha» «im Kreise seiner Freunde fast bubenhaft lustig» gewesen sein:

Seine Beurteilung der aussen- und innenpolitischen Lage der Schweiz waren nicht nur nach dem Inhalt, sondern auch stilistisch kleine Meisterwerke.

Eines der Meisterwerke Hausamanns ist der «aus sehr gut informierter Quelle» stammende Bericht, der ihm am 28. Juni «zugegangen» war und dessen «Abschrift» er an Masson weiterleitet. Darin heisst es:

Am vergangenen Montag, dem 24. Juni 1940, fand in Berlin in der Reichskanzlei eine Führerbesprechung Hitlers mit seinem engeren Mitarbeiterstab statt, bei dem u. a. auch Generalfeldmarschall Göring, Generaloberst Keitel, Reichsaussenminister Ribbentrop und die Reichsminister Hess und Goebbels anwesend waren. Diese Führerbesprechung diente der Erörterung der nach der Kapitulation Frankreichs in Europa geschaffenen Lage und befasste sich bei diesem Anlass auch mit der Schweiz und der diesem Lande gegenüber seitens Deutschlands nunmehr einzuschlagenden politischen Gangart.

Der Bericht skizziert die «zwei Auffassungen», die sich gegenüberstanden. Ribbentrop habe «einen sofortigen Zugriff gegen die Schweiz und deren Besetzung durch deutsche Truppen» entlang einer von ihm genau beschriebenen Grenze verlangt:

Ein bewaffneter Widerstand der Schweiz gegen die deutschen Truppen sei zurzeit nicht mehr wahrscheinlich; sollten sich noch einige Widerstandsnester zeigen, so würde schon ein kurzes Luftbombardement diese zur Kampfaufgabe zwingen.

Vertreter der Wehrmacht, «insbesondere der eigens zu dieser Besprechung in Berlin eingetroffene Keitel», waren sich nicht sicher, ob die Schweiz kampflos aufgeben würde. Bei bewaffnetem Widerstand würde ein Feldzug gegen die Schweiz wegen ihrer sehr günstigen natürlichen Verteidigungslage «einige hunderttausend Mann deutsche Verluste» kosten, die «zur Endabrechnung mit England» benötigt seien. Allerdings:

Auch die Vertreter der deutschen Wehrmacht sind, ebenso wie Ribbentrop, der Auffassung, dass die Annexion der Schweiz bis zur oben erwähnten Linie schon zur Abrundung der deutschen Grenze im mitteleuropäischen Raum unentbehrlich ist.

Die von Ribbentrop und von Keitel für «unentbehrlich» gehaltene Annexion der deutschsprachigen Schweiz könne gemäss deutscher oberster Heeresleitung durch Propaganda erreicht werden. Der Schweizer Bevölkerung müsse «auf alle mögliche Art» suggeriert werden, dass ein «Widerstand gegen Deutschland aussichtslos und nutzlos sei. Auch müsse mit dem weiteren raschen «Ausbau der illegalen Organisation der Schweiz» der Boden vorbereitet werden, damit ein «plötzlicher deutscher Druck, unter Androhung sofortiger Einmarschhandlungen» mit Sicherheit Erfolg haben werde, «ohne irgendwelche verlustreiche Kampfhandlungen notwendig zu machen»:

Diese von Generaloberst Keitel vorgesehene Auffassung fand auch die Billigung Hitlers selbst, der bei der Besprechung zu wiederholten Malen in die Diskussion eingriff.

Nichts stimmt an Hausamanns meisterlichen Bericht. Gar nichts.

Hitler ist seit dem 10. Mai nicht mehr in Berlin gewesen. Am 24. Juni hielt er keine Besprechung ab. Es gab in den Monaten Mai und Juni 1940 nie eine Sitzung, an der Göring, Ribbentrop, Keitel, Hess und Goebbels anwesend waren. Hitlers Besprechungen bestanden hauptsächlich aus seinen Monologen. Die beschriebene Diskussion über die Schweiz hat nie stattgefunden.

Hausamanns «sehr gut informierte Quelle» ist er selber gewesen. Der Teufener «Meisterspion» will Masson und dem General weismachen, dass Deutschland die Schweiz mittels Drohungen und Propaganda weichklopfen wolle, um sie dann kampflos in Besitz zu nehmen. Sein frei erfundenes Hauptquartiergespräch soll auch den weiteren «Abbau der umfangreichen militärischen Massnahmen» verhindern. Für den Patrioten Hausamann heiligt der Zweck die Mittel. Die Empfänger seiner Fantasieberichte, allen voran Ernst, Lindt und Masson schenken ihm Glauben. Auch der General scheint Hausamanns Erzählungen ernst zu nehmen.

Nach dem Krieg werden massgebliche Historiker und leichtgläubige Journalisten Hausamanns Berichte kritiklos als Quellen verwenden. Edgar Bonjour wird 1971 den zitierten Bericht Hausamanns vom 30. Juni 1940 auf den Seiten 42-44, «Band VIII, Dokumente 1939–1945» seiner «Geschichte der Schweizerischen Neutralität» kommentarlos nachdrucken.  


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 31.12.2023

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