28. Lehrgeld Aus «Politiker wider Willen»

In den Jahren nach dem Weltkrieg erhitzt die Sicherung der Getreideversorgung die Gemüter. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war Brot das Hauptnahrungsmittel des Volkes und machte über ein Drittel der Haushaltsausgaben einer Durchschnittsfamilie aus. Bereits in den 1870er- Jahren wurde in der Arbeiterschaft der Ruf nach einer Verstaatlichung des Getreidehandels laut. Die bürgerliche Mehrheit des Landes hatte dafür kein Gehör. Als jedoch zu Beginn des Weltkriegs die lebenswichtigen Getreidelieferungen aus dem Ausland ausblieben, verhängte der Bundesrat 1915 für die Getreideeinfuhr ein staatliches Monopol. Weil sich die notrechtliche Massnahme bewährt hatte, beschloss der Bundesrat, das Monopol in einem Verfassungsartikel zu verankern.

Die Monopolvorlage verzichtet zwar auf das staatliche Einfuhrmonopol, hält aber an Preiskontrollen und Absatzgarantien fest. Im Abstimmungskampf 1926 kämpft Volkswirtschaftsminister Schulthess leidenschaftlich für seine Vorlage. Die für bäuerliche Anliegen empfänglichen Kollegen Chuard und Scheurer folgen ihm aus Überzeugung, Haab, Motta und Häberlin ohne besondere Begeisterung. Finanzminister Musy, der mit seinem Rivalen Schulthess in einem Dauerstreit liegt, hintertreibt heimlich die Vorlage. Auf seiner Seite hat Musy die Unternehmerverbände und die Hochfinanz.

Das Land ist gespalten, die Freisinnigen sind gespalten, die Katholisch-Konservativen sind gespalten. Im immer noch stark landwirtschaftlichen Kanton Waadt setzen sich die Radikalen, die ein Abdriften ihrer ländlichen Wähler zur Bauernpartei verhindern wollen, für das Monopol ein. Am 2. Juni 1926 findet im Lausanner Casino de Montbenon vor einer zahlreichen Zuhörerschaft eine «völlig objektive und höfliche» kontradiktorische Diskussion über das Getreidemonopol statt. Für das Monopol spricht «mit seinem gewohnten rhetorischen Talent» Nationalrat Pilet-Golaz.

Pilet erinnert daran, dass man zur Sicherung der Nahrungsmittelversorgung und der Förderung des einheimischen Getreideanbaus Lösungen vorgeschlagen habe. Die eidgenössischen Räte seien schliesslich zur Überzeugung gelangt, dass diejenige des Monopols die beste sei.

Es gibt gute und schlechte Monopole. Das Getreidemonopol gehört zu den guten, weil es nur 62 Beamte braucht, um es zu betreiben. Man wirft ihm vor, es führe zu einer Verteuerung des Getreides. Dies ist ein Irrtum, denn das Monopol existiert und die Getreidepreise sind gesunken.

Am 6. Dezember 1926 verwirft das Volk das Getreidemonopol knapp. Pilet hat immerhin die Genugtuung, dass sein Kanton deutlich ja gesagt hat. Tags darauf tritt das Parlament zur Wintersession zusammen. Pilet in der Revue:

Die Gesichter sind vom Wahlergebnis des Vortags verfinstert. Wir denken alle an die Betrübnis unserer Freunde auf dem Land, an ihre Angst vor der Zukunft, an die schweren Jahre, die vielleicht unserer Landwirtschaft bevorstehen, die tiefen und gefährlichen Erschütterungen, die unser Land davon erleiden kann. Die Mehrheit unseres Volkes hat auf eine der kostbarsten geistigen Nahrungen unserer Demokratie verzichtet, auf die Solidarität, die ein lebenswichtiges Prinzip unserer modernen Gesellschaften ist. Aber was nützt es, zu schimpfen? Das Bedauern und die Tränen sind der Ausdruck der Schwachen. Die Nation hat gesprochen: Fügen wir uns; oder wenden wir unsere Blicke lieber von der Vergangenheit in die Zukunft … Suchen wir ohne Unterlass und ohne Hintergedanken eine neue Lösung für das Problem, das uns schwer bedrückt.

Regierung und Parlament werden eine pragmatische Lösung für die Sicherung der Brotversorgung finden, die drei Jahre später vom Volk klar angenommen wird.

Pilet kommentiert in seinen Lettres du Parlement regelmässig die Schweizer Aussenpolitik, wobei er allerdings gerne betont, dass er kein Fachmann sei. «Ich hätte Angst», schreibt er, «mich in eine so geschlossene Domäne zu wagen wie die internationale Politik.» Oder: «Aber ich bitte euch um Verzeihung, hier befinde ich mich wie mein Kollege und Freund M. Vallotton-Warnery mitten in der Aussenpolitik. Und ich habe Unrecht, denn keiner kann diese besser behandeln als er.»

Vallotton ist der aussenpolitische Fachmann der welschen Radikalen. Als parlamentarischer Chronist fasst Pilet die Ausführungen seines Freunds lobend zusammen: «Unsere Gesandtschaften», habe Vallotton im Nationalrat gesagt, seien «Organe der politischen Benachrichtigung unserer Regierung, Heimstätten, wo unsere Landsleute Schutz finden», sie sollten aber auch «wahre wirtschaftliche Zentren sein, die unsere kommerzielle Ausstrahlung erleichtern und unserer Industrie und unserer Landwirtschaft Absatzmärkte öffnen.» Als «Vorposten eines kleinen, neutralen und bescheidenen Landes» hätten unsere Gesandtschaften einen eigenen Charakter und verfolgten «ihre besonderen Ziele, die sie deutlich von den Botschaften der Grossmächte unterschieden». Genauso wird Bundesrat Pilet-Golaz denken, wenn er von 1940 bis 1944 dem Politischen Departement vorstehen wird.

Wenig hält Pilet von der Idee einer Beaufsichtigung der bundesrätlichen Aussenpolitik durch eine spezielle parlamentarische Kommission:

Die ständige aussenpolitische Kommission wurde vor sehr langer Zeit von einem Abgeordneten ersonnen, der zweifellos den Wunsch hegte, ihr anzugehören. Aber sie sah nie das Licht der Welt. Eine Totgeburt. Ständige Kommissionen, schreibt er, hätten etwas Gutes, «theoretisch». Ihre Mitglieder könnten oft die ihnen vorgelegten Projekte besser prüfen als andere Parlamentarier. Aber sie stellten auch eine Gefahr dar:

Leicht werfen sie sich zum Vormund der Exekutivgewalt auf. Selber ohne Verantwortung, entreissen sie den verantwortlichen Ministern Kompetenzen. Welches Unheil haben sie im Laufe der Jahrhunderte angerichtet! Die Geschichte der Nachbarländer liefert zahlreiche Beispiele.

Und dann kommt Pilet zu einem Fazit, das sich als ceterum censeo durch seine ganze politische Laufbahn zieht:

Das Prinzip einer guten Politik liegt darin, dass die Zuständigkeiten und die Verantwortungen vereint sind; die Regierung muss regieren, nicht graue Eminenzen. Das Parlament war glücklicherweise derselben Meinung … es begrub die aussenpolitische Kommission auf lange Zeit, ohne sie zu betrauern.

Die «lange Zeit» sollte gerade bis 1936 dauern, wenn ausgerechnet Vallotton und Grimm sie ins Leben rufen werden. Als Aussenminister während des 2. Weltkriegs wird Pilet sein Misstrauen gegenüber der Kommission, der er regelmässig Rechenschaft ablegen muss, nie ganz ablegen.

Die Beziehungen zum Italien Mussolinis kommen im Rat oft aufs Tapet. Als faschistische Agenten den politischen Flüchtling Rossi aus dem Tessin entführten, schickte Bundesrat Motta, der im Umgang mit dem italienischen Diktator manchmal übertrieben nachgiebig war, eine energische Protestnote nach Rom. Faschistische Agenten wurden aus der Schweiz ausgewiesen. Pilet gefällt Mottas «Sprache der Vernunft: Festigkeit und Ausgleich».

Nicht immer ist Pilet mit Motta einverstanden, aber er versteht auch, dass die Rolle des Aussenministers «schwierig, heikel und belastend» sein kann:

Die Hindernisse, denen er auf seinem Weg begegnet, sind zahlreich, besonders seit die Schweiz – zu Unrecht, meiner Meinung nach – den Eindruck macht, dass sie in der internationalen Politik eine Rolle spielen will, während sie sich früher begnügte, mit dem Beispiel voranzugehen, dem guten Beispiel.

«Zu Unrecht», befindet Pilet, der 1940 Mottas Nachfolge antreten wird. Selber wird er sich hüten, in der internationalen Politik eine Rolle spielen zu wollen. Ganz im Gegensatz zu den meisten seiner Nachfolger, die dies nur allzu gerne taten und tun.

Bei allen Vorbehalten gegenüber einzelnen Aspekten von Mottas Politik zollt Nationalrat Pilet dem Tessiner Lob:

Wir sind uns der undankbaren Rolle unseres Aussenministers bewusst. Wir sind überzeugt, dass er sich ihr mit voller Hingabe widmet. Reden wir freimütig: Wir bedauern ihn, wie wir alle unsere Bundesräte bedauern. Man muss sie an der Arbeit sehen, um die Selbstlosigkeit, die Geduld und den Bürgersinn, die sie nötig haben, zu beurteilen, den enormen Arbeitsaufwand, den sie leisten müssen, die geringe Dankbarkeit, die sie kriegen, und die mageren Befriedigungen ihres Daseins – sei es auch nur diejenige der getanen Pflicht.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Pilet ist zum welschen Referenten für das komplizierte Enteignungsgesetz bestimmt worden. Wann darf die öffentliche Hand einem Eigentümer sein Grundstück enteignen, um dort ein Werk von allgemeinem Interesse zu bauen? Wie wird er entschädigt? Dies sind Fragen, die dem gewieften Juristen, der über das Baurecht dissertiert hat, liegen.

26. Juni 1928. Gelangweilt beobachtet der Berner Korrespondent des Neuenburger Feuille d’Avis das Geschehen. Draussen wartet die dösende Natur unter einem bleiernen Himmel auf das befreiende Gewitter. Schlimmer noch ist’s drinnen. Man bespricht die 117 Artikel des Bundesgesetzes über die Enteignungen oder Expropriationen. Jedes Wort wird gewogen und nochmals gewogen. Das Gesetzeswerk ist notwendig, – «wie man uns sagt». Aber ach so undankbar und trostlos. Die beiden Kommissionsberichterstatter präsentieren, kommentieren, erläutern. Auf Französisch referiert Pilet-Golaz – «kühner Blick, lebhaftes Auge, das Haar schwarz und glatt, Haar wie der Flügel des Raben». Bundesrat Häberlin hört mit gewohntem Ernst zu. Les sténographes sténographent, les chronistes chroniquent. Und die Versammlung versinkt im Dämmerschlaf.

Die Abgeordneten kleben reglos und erschöpft an ihrem Platz. «Höflich auch noch im Leid», bemühen sich einige, den Referenten kollegiale Aufmerksamkeit zu schenken. Die einen versuchen, ihre Augenlider mithilfe kleiner Zündholzstücklein offenzuhalten, andere kneifen sich alle zwei Minuten in den empfindlichsten Teil ihrer Hauthülle. Wieder andere halten eine Zeitung vor sich und «überfliegen sie mit reglos gleichgültiger Miene». Beobachtet man sie mit dem Opernglas, stellt man fest, dass ihre Augen geschlossen sind, «wie um den inneren Genuss, den ihnen die Reden verschaffen, besser auszukosten». Ein braver Abgeordneter klemmt seine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen. Dann schläft er in dieser unbequemen Stellung ein.

Dies sind die unschuldigen Beschäftigungen der vier oder fünf Dutzend Anwesenden, die in diesem weiträumigen Saal so dünn gesät sind «wie die Haare auf dem Kopf Ihres Korrespondenten» – schreibt R.E. im Feuille d’Avis. Was die übrigen Abgeordneten betrifft, sind sie … «anderswo». Nicht in den Wandelgängen, wo die Stimme der Berichterstatter sie durch die auf beiden Flügeln geöffneten Türen hätte erreichen können. Nein, weiter weg sind die Herren, viel weiter weg. Möglicherweise in den saftigen Wiesen. Oder in den smaragdgrünen Wellen der Aare, die von Badenden derart übervölkert ist, dass sie aussieht wie ein mit Gänseblümchen bedeckter Rasenteppich. Oder vielleicht laben sich die Herren Nationalräte im frischen Schatten einer gastlichen Pinte.

Heroisch fahren Pilet und sein Deutschschweizer Berichterstatterkollege gleichwohl mit ihrer «grossen und schönen» Arbeit fort. Kleine, nicht sehr wilde Debatten gehen los. So eine zwischen der Kommissionsminderheit, vertreten durch den Zürcher Sozialisten Klöti, und der Kommissionsmehrheit, vertreten durch Pilet. Wenn es – wie beispielsweise beim Bau eines Bahnhofs – zur einer Teilenteignung kommt, jedoch der Rest der Liegenschaft einen bedeutenden Mehrwert erfährt, dann soll nach Meinung der Sozis die Entschädigung des Eigentümers reduziert werden? Pilet erklärt, wieso der Mehrwert unmöglich berechnet werden kann und wieso dies gegenüber anderen Eigentümern ungerecht wäre. Bundesrat Häberlin verteidigt «energisch, klug, gewissenhaft, eloquent» ebenfalls den ursprünglichen Text und obsiegt.

Die Debatte geht vor schwindendem Publikum weiter. Die wenigen braven Bürger, die sich auf die Zuschauertribüne gewagt haben, sind seit Langem geflohen. Auf den Galerien der Eingeladen und der Diplomaten keine Katze. Ein paar Journalisten und eine Handvoll Abgeordneter halten tapfer durch, die einen gegen die andern gedrückt, wie die Schiffbrüchigen auf Géricaults Floss der Medusa, «die beklommen auf die Ankunft des Schiffs warten, das ihnen den Sitzungsschluss bringt».

Der gut vorbereite Gesetzesentwurf wird vom Rat einstimmig angenommen. Pilet hat solide juristische Arbeit geleistet. In den Kommissionssitzungen und der Debatte hat sich der Waadtländer ein Bild von seinen Kollegen machen können. Er bewundert Bundesrat Häberlin und wird sich mit ihm persönlich anfreunden. Emil Klöti, der schon im nächsten Jahr von den Sozialisten als Bundesratskandidat portiert wird, schätzt er weniger.


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 30.03.2025

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