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«Wir müssen abschiedlich leben lernen»

Sterben gehört zum Leben – nicht nur in Corona-Zeiten. Doch auch für Seelsorgende war die Zeit des Lockdowns eine Herausforderung. Monika Schmid, Pfarreibeauftrage von St. Martin Illnau-Effretikon, erinnert sich.

Interview: Usch Vollenwyder

Wie haben Sie in Ihrer Pfarrei die Wochen des Lockdowns erlebt?
Von einem Tag auf den anderen waren Gottesdienste, Besuche in Altersinstitutionen und persönliche Begegnungen nicht mehr möglich. Unserem Team war es von Anfang an wichtig, den Kontakt mit den Pfarreiangehörigen auf irgendeine Art aufrechtzuerhalten. Meine Kollegin konnte unter strengen Auflagen weiterhin Besuche im Altersheim machen. Diejenigen, die zu Hause wohnten, riefen wir regelmässig an – je nach Bedürfnis ein- bis zweimal in der Woche – und boten ihnen unsere Hilfe an. Das war eine zeitintensive, aber spannende Kontaktmöglichkeit.

Welche Rückmeldungen erhielten Sie?
Viele schätzten die Telefonanrufe sehr. Andere brauchten unser Angebot gar nicht. Einigen half allein das Wissen, nicht ganz vergessen zu sein. Wir bekamen viel Dankbarkeit zu spüren und eine grosse Nähe in aller Distanz. Eine Frau sagte mir, ohne die regelmässigen Kontakte hätte sie diese Zeit nicht überstanden.

Welches waren die seelsorgerlichen Themen in diesen Wochen und Monaten?
Viele waren besorgt und fragten sich: Wir lange dauert es noch? Was macht dieses Eingesperrt-Sein mit uns? Auch Lebensängste oder unverarbeitete Ereignisse kamen an die Oberfläche, weil man sich plötzlich nicht mehr ablenken konnte. Da galt es, Verständnis zu haben und je nachdem ebenfalls Verständnis für die von den Behörden erlassenen Regeln zu wecken. Auch die Bedürfnisse der Menschen waren unterschiedlich: Die einen warteten sehnlichst wieder auf den Gottesdienst, andere waren froh um mehr Zeit für sich selber. Für mich bedeutet Seelsorge: Auf den Menschen einzugehen und ihm das zu geben, was er im Moment braucht. So ging ich zum Beispiel auch für ein älteres Ehepaar einkaufen. Menschen, die sich sehr nach der Kommunion, dem Brot des Lebens sehnten, legten wir die geweihte Hostie zusammen mit einer kleinen Feier für zu Hause in den Briefkasten.

Was sagen Sie Menschen, welche die Pandemie als Strafe Gottes betrachten?
Solche Gespräche hatte ich nie. Das wäre auch ein sehr veraltetes Gottesbild. Gott ist nicht ein strafender Rächer, der uns Menschen wieder mal zeigen muss, wie wir uns zu benehmen haben. Die Frage ist eher, welche Rolle das Göttliche in unserem gefährdeten Leben spielt. Religiöse und spirituelle Menschen fühlen sich verbunden mit einem grossen Ganzen und vertrauen auf einen Boden, der sie hält – auch wenn uns das Leben hart anpackt. Da kann der Glaube helfen: Wir können nie tiefer fallen als in diese Göttlichkeit. Für mich ist sie nichts anderes als Liebe.

Wie haben die Wochen während des Lockdowns Sie persönlich betroffen?
Einerseits genoss ich den Freiraum, die grössere Ruhe und den nicht mehr so straff getakteten Alltag. Ich wurde aber auch dünnhäutiger. Ich hatte mehr Zeit, mich mit mir selber zu beschäftigen und mich eigenen Schattenseiten zu stellen. Eine besondere Herausforderung war für mich der Umgang mit meinem Vater, der noch in den eigenen vier Wänden lebt. Um ihn zu schützen, beschränkten wir uns auf Besuche durch meine Schwester. Irgendwann ging mir durch den Kopf: Mein Vater kann jederzeit sterben, auch ohne Corona.

Was haben Sie verändert?
Ich versuchte, mit meinem gesunden Menschenverstand abzuwägen: Was ist besser? Dass er vielleicht aufgrund seines hohen Alters sterben könnte, und ich mit der Tatsache fertig werden müsste, dass ich ihn aus Angst vor Corona nicht mehr gesehen habe? Oder dass wir gemeinsam die verbleibende Zeit nutzen und der Tatsache ins Auge schauen, dass das Leben – mit oder ohne Corona – irgendwann zu Ende geht? Ich besuchte ihn wieder, unter Einhaltung der Schutzmassnahmen und mit der nötigen Vorsicht.

Das war nur möglich, weil Ihr Vater nicht in einem Heim lebt.
Ich verstehe die Altersinstitutionen, die ihren Bewohnenden den grösstmöglichen Schutz bieten wollten. Gleichzeitig hat man meiner Meinung nach die Chance verpasst, über abschiedliches Leben nachzudenken. Auch die offizielle Kirche hat sich dieser Frage nicht gestellt. Man wollte möglichst bald wieder Gottesdienste feiern und sah sich gegenüber Restaurants und öffentlichen Einrichtungen benachteiligt.

Was hätte die offizielle Kirche denn machen können?
Sich fragen, wo sie gefordert ist und welche Themen die Menschen in dieser Situation berühren. Sie hätte ihr Augenmerk auf den Umgang mit dem Tod, auf die Endlichkeit des Lebens und die Zumutung des Sterbens richten und sich mit einer «Ethik des Abschiednehmens» auseinandersetzen können. Menschen mit einer unheilbaren Krankheit wissen um diesen bevorstehenden Abschied. Das müsste im Alter auch so sein – in Institutionen ebenso wie im persönlichen Umfeld von Betroffenen.

Wollen alte Menschen das überhaupt?
Als Seelsorgerin erlebe ich viele alte Menschen, die Mühe haben, über das Sterben zu reden. Oft steht eine grosse Angst im Raum. Wer sie aussprechen kann, gewinnt in der Regel ein Stück Gelassenheit. Ich merke aber sehr oft auch, wie die Angehörigen mit dieser Thematik nicht umgehen können. Dann entsteht ein Tabu. Sterben und Tod sollte ein lebenslanges Thema sein. Wir müssen abschiedlich leben lernen.

Besteht ein Unterschied zwischen Seelsorge in einer Institution und Seelsorge zu Hause?
Die Anliegen und Bedürfnisse sind die gleichen. Da die Menschen jedoch immer später in eine Pflegeinstitution umziehen, sind dort Schmerzen, Krankheit und Tod öfter ein Thema. Zahlreiche Heimbewohnende möchten tatsächlich sterben. Ihr Wunsch hat weniger mit dem Leben im Heim zu tun, als vielmehr mit den zunehmenden Beschwerden. Diesen Wunsch muss man ernst nehmen und mit ihnen Wege suchen, abschiedlich zu leben.

Was sagen Sie diesen Menschen?
Ich versuche, sie darin zu unterstützen. Ich sage, dass sie diesem Wunsch nachspüren dürfen und vor allem auch mit den Angehörigen darüber sprechen sollen.

Monika Schmid (63)

war im Erstberuf Kindergärtnerin, bevor sie ihr Studium der Religionspädagogik und weiterer Fächer in Theologie absolvierte. Weitere Schwerpunkte sind ihre Ausbildung in psychologischer Beratung am Szondy-Institut, Bibliodramaleitung sowie Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess an der Universität Salzburg.

Seit 1985 ist Monika Schmid im kirchlichen Dienst. 2001 wurde sie zur Pfarreibeauftragten der Pfarrei St. Martin Illnau-Effretikon gewählt. www.pfarrei-effretikon.ch

Beitrag vom 17.08.2020
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