
Zum ersten Advent 1. Dezember 2025
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Weihnachtskugeln, die Geschichten erzählen.
Sie ist die erste, die ich zum adventlichen Schmücken der Wohnung hervorhole: die Schachtel mit den Glaskugeln, die ich im Laufe der Jahre gesammelt habe. Ich nehme mir viel Zeit, die Weihnachtskugeln mit ihren unterschiedlich langen Fäden an den dunkelbraunen Balken in der Dachstube hübsch anzuordnen. Jede erzählt eine eigene Geschichte. Am liebsten mag ich die Kugel meiner Mama. Meine Mama konnte nähen und stricken, malen und flechten. Sie hatte flinke Finger, die immer in Bewegung waren. Alles musste zügig vorangehen. Knifflige Geduldsarbeiten lagen ihr nicht. Beim Glasritzen scheiterte sie grandios: Ein mageres Tannzweiglein, darauf ein Kerzlein – dann gab sie auf. Ich rettete die unvollkommene Weihnachtskugel vor dem Kehrichtsack. Sie ist mir nicht weniger wert als die grosse Wäschetruhe, die uns meine Mama zur Hochzeit so kunstvoll bemalt hatte.
Ich nehme die schwere, mit Wasser gefüllte Kugel aus der Schachtel. Sie gehörte der Mutter meines Mannes. Von ihm weiss ich, dass sie, wenn immer möglich, jedes Jahr eine weitere farbige Kugel kaufte. Er erzählt, wie stolz sie war und wie sehr sie sich über ihre immer grösser werdende Sammlung freute. Dann kam ein besonders strenger Winter mit tagelangen Minustemperaturen. Das Wasser wurde zu Eis, die Glaskugeln in ihrer Schachtel auf dem Estrich zersprangen. Mein Mann erinnert sich, wie traurig und frustriert seine Mutter deswegen war. Eine einzige – sie ist aus besonders dickem Glas – überstand die eiskalten Tage. Ich halte sie als Andenken an meine mir unbekannte Schwiegermutter in besonderen Ehren.
Die Kugel aus Milchglas mit den glimmernden Punkten habe ich von Johann Wanner bekommen. Für einen Artikel in der Zeitlupe durfte ich den «Couturier des Weihnachtsbaums», wie er sich selber nannte, in seinem ganzjährig geöffneten «Weihnachtsbaumschmuckausstattungsspezialgeschäft» in Basel besuchen. Ich war überwältigt von diesem bis unter die Decke üppig und opulent ausgestatteten Laden mit Weihnachtsschmuck in allen Formen und Farben – von traditionell und romantisch zu skurril, schräg und kitschig.
Neben die Glaskugel mit den Glimmerpunkten platziere ich das Geschenk meiner längst verstorbenen Freundin: Die Kugel, gefüllt mit flaumigen Federn, sollte uns motivieren, im nächsten Jahr endlich, endlich ein paar unserer überschüssigen Kilos abzunehmen.
Die eine oder andere Kugel habe ich mir auch selber gekauft: eine aus Glas, das wie zersplittert aussieht. Sie passte zu meiner Stimmung vor vielen Jahren, als mein Lebensweg nur noch mit Problemen gepflastert schien. Besonders kostbar ist mir das gläserne Glöcklein, das jeweils am Tannenbaum meiner Oberaargauer Grosseltern hing. Das Weihnachtsbäumchen war immer so klein, dass man es auf einen Stuhl oder gar auf den Tisch stellen musste, damit es überhaupt zur Geltung kam. Für mich als Kind war es das schönste Bäumchen, das man sich vorstellen konnte.
Alle Kugeln sind aufgehängt. Versonnen betrachte ich mein Adventswerk. Der Basler Antiquitätenhändler Johann Wanner kommt mir wieder in den Sinn, der sich jeweils darüber freute, wenn Kundinnen und Kunden gedankenverloren vor einem seiner geschmückten Bäumchen stehen blieben, manche mit Tränen in den Augen. Dann befänden sie sich auf ihrer «Kinderinsel», hatte der damals 72-Jährige die Erfahrung gemacht. Und überzeugt hinzugefügt: «Weihnachten weicht das Alter auf».
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