Vorfreude 31. August 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der langen Reise in die Ferien und vom «pass sanitaire», ohne den nichts geht.
Wir sind da. Wir stehen am Meer, die Schuhe ausgezogen, und lassen den Atlantik unsere Füsse umspülen. Ich spüre den Sand unter den Fusssohlen und zwischen den Zehen. Wir gehen langsam am Wassersaum entlang. Unser wasserscheuer Hund flüchtet vor den sanft anrollenden Wellen, meine hochgekrempelten Hosenbeine werden nass. Das Meer ist durchsichtig und klar. Die Bucht – «unsere» Bucht in Gehdistanz von unserem Ferienhäuschen – haben wir fast für uns allein, die grossen Touristenmengen sind am Wochenende abgezogen. Die Landschaft ist so, wie ich sie mir in meinen Träumen ausgemalt habe. Sogar noch ein bisschen schöner: Die Heide blüht, und die von ihr bedeckten, ins Meer hinausragenden Klippen schimmern rostrosafarben.
Für mich gehört schon die Vorfreude zu den Ferien. Ich hege und pflege sie, längst bevor wir losfahren. Gleich drei Reiseführer über die Bretagne habe ich uns diesmal besorgt. Ich lese, vergleiche, plane. Im Internet schaue ich mir Bilder von Ferienhäusern in unterschiedlichen Gegenden an. Ich lese die Krimis rund um Monsieur le Commissaire Georges Dupin und begleite ihn an die Orte der bretonischen Verbrechen: in die Künstlerkolonie nach Pont-Aven, auf das flache Archipel der Glénan-Inseln oder zu den Salzbecken an der Côte d’Amour. Mit jedem Wort und jedem Satz spult der Bretagne-Film vor meinem inneren Auge weiter.
Auch wenn ich nachts nicht schlafen kann, mache ich Gedankenreisen an unser Urlaubsziel – längst bevor es dann wirklich losgeht. Ich sehe uns über den Markt schlendern, in einem Hafenrestaurant Fisch essen, über die Klippen wandern oder dem Strand entlang spazieren. Ich zähle die Tage, bis es soweit ist: Noch zwei Wochen, noch eine, übermorgen, morgen… Und wenn wir schliesslich losfahren und die Dörfli-Ortstafel hinter uns lassen, frage ich mich jedes Mal, was ich erlebt haben werde, wenn wir die Ortstafel das nächste Mal in umgekehrter Richtung passieren. «Vorfreude ist die schönste Freude», behauptet der Volksmund. Er hat jedenfalls nicht Unrecht.
Diesmal gehören nicht nur unsere Identitätskarten und der Hundeimpfausweis ins Gepäck, sondern ebenfalls der obligatorische «pass sanitaire» und das «engagement sur l’honneur», eine eidesstattliche Erklärung, dass man sich an die im Gastland geltenden Massnahmen zu halten bereit ist. Wir laden die französische Anti Covid App aufs Handy – sie ist in den Nationalfarben rot, blau und weiss gehalten – und fügen unsere Zertifikate ein. Damit sollten uns in Frankreich Tür und Tor geöffnet sein. Und tatsächlich, sie sind es – die Türen und Tore zu Restaurants, Bistros und Gartenterrassen, zu Museen und zu sämtlichen Sehenswürdigkeiten.
Über der Autobahn hängen in regelmässigen Abständen Tafeln in Leuchtschrift: «Tous vaccinés, tous protégés» – alle geimpft, alle geschützt. Auf der langen Anfahrt übernachten wir in einem kleinen Hotel im Loire-Tal. Ohne 3G-Nachweis – geimpft, genesen, getestet – gibt es keinen Zugang. Ob er viele Gäste habe, die beim Einchecken einen negativen Test vorweisen würden, frage ich den Hotelbesitzer. Dieser lacht, schüttelt den Kopf. Er erinnere sich nicht, sagt er: «Non, non. On est en France. Unsere Gäste sind geimpft.»
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