Venedig 24. Januar 2022
Die ehemalige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (70) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der Lagunenstadt ohne Touristen.
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Ich besuchte die neunte Klasse, als unsere Familie – Mama, Papa und wir drei Kinder – zum ersten Mal ins Ausland fuhren: für drei Tage nach Venedig. Papa hatte uns vom Damm erzählt, der das Festland mit der Stadt verbindet. Fasziniert blickte ich aufs Wasser, das auf beiden Seiten Zug und Strasse zu umspülen schien. Er hatte auch von San Michele gesprochen, der Insel nur für die Toten. Sie hatte meine Phantasie beflügelt. Mama wiederum malte uns aus, wie die Gefangenen vom Dogenpalast über die Seufzerbrücke in den Kerker gebracht worden waren. Ihre Qualen und ihr Stöhnen konnte ich mir lebhaft vorstellen.
Viele Jahre später und frisch verliebt schenkte ich meinem Mann zu seinem dreissigsten Geburtstag eine Reise in die Lagunenstadt. Unvergessen bleibt mir seine kindliche Freude, als er aus der Bahnhofhalle trat und sich am Bild, das sich ihm bot, nicht sattsehen konnte: Linienboote, Wassertaxis, Gondeln, Boote voller Baumaterial, Ambulanzfahrzeuge und Ruderboote drängten auf dem Canal Grande, der Hauptwasserstrasse, die sich s-förmig bis zum Markusplatz hinzieht. Für meinen Mann war es Liebe auf den ersten Blick.
Viele Male waren wir seither in Venedig – aber nie mehr in seinem Geburtstagsmonat Mai, wenn die Stadt unter dem Touristenstrom aus aller Welt ächzt. Jetzt fahren wir im Winter hin, wenn Venedig den Einheimischen gehört und deutlich weniger Touristen von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit pilgern. Doch so wie in dieser Woche haben wir die Stadt noch nie erlebt: keine asiatischen Gesichter, nirgends ein deutsches Wort, stille Gässchen, leere Plätze. Nur noch wenige Gondolieri warten vergebens auf Kundschaft, Souvenirverkäufer sitzen gelangweilt neben ihren Ständen. Die Hundepopulation hat sich seit unserem letzten Besuch vervielfacht und die Bautätigkeit scheint zu florieren.
Nirgendwo müssen wir für einen Kaffee, ein Glas Wein oder ein Nachtessen anstehen. Wir besuchen den Markus-Dom mit seinen fünf Kuppeln und den fünftausend Quadratmetern Mosaiken. Wir schauen uns Kirchen mit Gemälden alter italienischer Meister an. Wir bewundern im Glasmuseum auf der Insel Murano die Werke historischer und zeitgenössischer Glaskünstler. Wir besuchen Orte, um die wir bisher einen Bogen gemacht haben, weil wir uns nicht in eine Touristenschlange einreihen wollten.
Corona ist allgegenwärtig. Die strenge FFP2-Maskenpflicht auf den Linienbooten wird diskussionslos eingehalten, der «Super Green Pass» ist ständiger Begleiter und muss selbst für einen Barbesuch im Stehen vorgezeigt werden. Auch draussen wird grösstenteils eine Maske getragen. Bevor wir in den Zug wieder Richtung Schweiz steigen, wird sogar Fieber gemessen. «Was, wenn ich Temperatur hätte?» frage ich den Beamten. Dann würde er die Sanitätspolizei rufen, gibt er zur Antwort. «Und dann?» Er zuckt die Schulter. Das wisse er nicht. Aber ich müsse mir ja keine Sorgen machen.
Die Zeit reicht nicht für ein längeres Palaver. Der Zug fährt in wenigen Minuten. Aber wunder nähme es mich schon, was dann passieren würde. Ob ich immer noch in Venedig wäre?
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Ich würde gerne mehr über Leute hören, die ein Musikinstrument spielen. Wie findet man Leute fürs Zusammenspiel, wenn man erst spät im Leben angefangen hat? Grade musste ich erfahren, dass der Notenloft in Zürich schliessen musste. Dort konnte man ungestört üben. Wie geht es Andern mit üben?