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Utopie? 23. Oktober 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: noch einmal von Israel und Palästina – und einem neuen Ansatz. 

Usch Vollenwyder
© Jessica Prinz

Ist es Feigheit? Oder Selbstschutz? Schon lange mute ich mir die Flut an Kriegsbildern nur noch in Ausnahmefällen zu. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel sind die Tagesschau und 10vor10 wieder ganz gestrichen. Ich höre Radio und lese Zeitung – immer auf der Suche nach Artikeln, die das unfassbare Geschehen analysieren und einordnen. Am liebsten wären mir Beiträge, die Hoffnung vermitteln und Mut machen. Doch diese sind rar. Ich lese über die Gründe, die zu dieser Eskalation geführt haben und mahnende Worte, dass Kriegsverbrechen nicht mit Kriegsverbrechen vergolten werden dürfen. Doch Lösungen, wie die seit Jahrzehnten dauernde Gewaltspirale beendet werden könnte, finde ich keine.

Ein Interview, das ich 2003 mit dem vor vier Jahren verstorbenen Arnold Hottinger führen durfte, kommt mir in den Sinn. Mit Respekt und Zuneigung sprach er von der arabischen Welt – und dass demokratische Entwicklungen viel Zeit bräuchten. Auf den Konfliktherd Israel-Palästina angesprochen, schüttelte der Nahostexperte den Kopf. Nein, er sehe keine Lösung, auch eine Zweistaatenlösung schliesse er aus. Er nahm einen Bleistift und ein Blatt Papier und skizzierte die Umrisse des Westjordanlands, das einst von der Uno den Palästinensern zugesprochen worden war. Er zeichnete kleinere und grössere Kreise in die Karte: jüdische Siedlungen, die sich in der Zwischenzeit vervielfacht haben. Ein eigener Palästinenserstaat sei damit nicht mehr möglich. 

Dann lese ich im Bund ein Interview mit dem israelischen Philosophie-Professor Omri Boehm. Er vergleicht die heutige Situation mit 1948, als Israel gegründet wurde. «Wir erleben zwei Völker, die auf demselben Stück Land leben (…), und für jedes von beiden scheint die Zerschlagung des anderen die Voraussetzung für das eigene Überleben zu sein.» Doch eine Zweistaatenlösung sei inzwischen unrealistisch. Vorzugeben, dass die Palästinenser nicht existieren, sei ebenso unrealistisch, sagt Omri Boehm. Deshalb plädiert er für einen neuen Ansatz: Ein föderalistischer Staat, in dem Israelis und Palästinenser mit gleichen Rechten zusammenleben: «Irgendjemand muss Vorschläge für den Tag danach machen.» Für ihn bilden die vielen Gruppen jüdisch-palästinensischer Solidarität die Basis für politische Veränderungen.

Mein negatives Gedankenkarussell – dass die Welt sowieso kaputt ist und ihrem Ende entgegengeht – wird jäh unterbrochen. Ich merke, wie ich ein kleines bisschen aufatme: Auch in hoffnungslosen Situationen kann man neue Wege denken. Das macht Mut. Eine Utopie? Der deutsche Politikwissenschaftler Ulrich Bartosch sagt dazu: «Utopisches Denken ist die menschliche Fähigkeit, über das Gegebene hinauszudenken und neue Welten zu schaffen.» 


  • Glauben Sie an neue Wege für Israel und Palästina? Oder sind alle Ideen und Lösungsvorschläge utopisch? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon erzählen oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 23.10.2023

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