Strapazierte Demokratie 30. November 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von demokratischen Werten und einem unvergesslichen Abstimmungssonntag.
Es gab Sonntagvormittage in meinem Kinderleben, da sagte unser Papa: «Heute gehen wir abstimmen.» Dann spazierte die Familie – Mama, Papa und wir drei Kinder im Sonntagsstaat – durchs Dorf Richtung Schulhaus, wo an der schweren Eingangstür ein Pfeil den Weg zum Abstimmungslokal wies. Dort hob mein Vater unsere kleine Schwester hoch, damit sie seine zusammengefalteten Stimmzettel in die Urne werfen konnte. Was darauf stehe, sei geheim, sagte Papa. Was «Abstimmung» und «Urne» und «Stimmzettel» bedeutete, wusste ich nicht. Aber der geheimnisvolle Vorgang, der allein meinem Vater vorbehalten war, faszinierte mich: Abstimmen musste etwas Besonderes sein.
Seither sind mehr als sechzig Jahre vergangen. Als ich zwanzig wurde, gewährten die Schweizermänner ihren Frauen das Stimm- und Wahlrecht. Es war mein persönliches Geburtstagsgeschenk. Seither habe ich nicht viele Urnengänge verpasst. Gern erkläre ich staunenden ausländischen Freunden und Bekannten unsere direkte Demokratie, erläutere Referendum und Initiative, Stände- und Volksmehr, Majorz- und Proporzwahl. Für die Bundestagswahl im September in Deutschland hatten unsere Marburger Freunde genau zwei Stimmen: die erste für eine Partei, die zweite für einen Kandidaten oder eine Kandidatin ihrer Wahl.
Ich gebe zu: Ich bin ziemlich stolz auf unser direktdemokratisches Politsystem. Selbst wenn wir über Kuhhörner, Minarette oder Burkas abzustimmen haben, und obwohl ich viel zu oft auf der Verliererseite stehe. Aber ich mag die Auseinandersetzungen mit Andersdenkenden und die Einigkeit mit Gleichgesinnten – bis zu diesem hässlichen Abstimmungskampf um das Covid-19-Gesetz: als ein Teil der Gegnerschaft bereits im Vorfeld das Resultat angezweifelt und von Manipulation und Betrug gesprochen hat. Ein Sakrileg in einer demokratischen Tradition. Die lauten Liberté-Schreihälse scheinen nicht zu wissen, dass auch eine Demokratie ihre Grenzen hat.
«Die Demokratie funktioniert», fasste Alain Berset nach dem Abstimmungssonntag zusammen. Ich finde, dass sie arg strapaziert wurde und einiges einstecken musste. Aber sie scheint zäh zu sein, die alte Dame, die 1848 von unseren Vorvätern erstritten und erkämpft wurde. Demokratie sei nicht einfach da, sagte Angela Merkel zum 31. Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober: «Wir müssen immer wieder für sie arbeiten, jeden Tag.» Bei dieser Arbeit kann man getrost geteilter Meinung sein. Dass demokratisch gefällte Entscheide jedoch schon zum Voraus nicht akzeptiert werden sollen, erinnert an fatale Ereignisse vor einem Jahr in Washington. Ich bin froh, ist der Abstimmungssonntag vorbei.
Im Dörfli sind die Plakate über Nacht verschwunden. Am deutlichen Abstimmungsresultat gibt es nichts zu rütteln. Der ganz normale Alltag mit all seinen Corona-Unwägbarkeiten ist zurückgekehrt. Auch ohne Abstimmungskampf ist er Herausforderung genug.
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