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Solidarität? 9. November 2020

Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: Von der ersten Stelle und fehlenden Lehrkräften in der Dorfschule.

Meine Schwiegertochter zeigt mir ein Blatt, das die Kleine von der Schule heimgebracht hat. «Willst Du dich nicht melden?», fragt sie mit einem breiten Lächeln. Ich lese: Dringend sucht unsere kleine Landschule pensionierte Lehrkräfte oder in irgendeiner Form pädagogisch geschulte Männer und Frauen. Die Schule legt eine Notfallliste an: Die Kinder dürfen nicht wieder zu Hause bleiben. Zu gross war nach dem Lockdown im Frühling der Rückstand der ohnehin schwächsten Schülerinnen und Schüler. Ich lache laut heraus. Ich in einer Schulstube? Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht mehr vorstellen. 

Ich erinnere mich an meine erste Stelle vor einem halben Jahrhundert. Ein Zauber liegt über ihr – der Zauber des Aufbruchs und Anfangs. Ich war gerade neunzehn Jahre alt geworden, hatte das Lehrerinnenseminar mit passablen Noten abgeschlossen, liess meine jüngeren Geschwister im zermürbenden Pubertätskampf mit meinen überforderten Eltern zurück und bezog meine erste eigene Wohnung in einem kleinen Dorf im Oberaargau, in Sichtweite des Schulhauses. Auf dem ersten Klassenfoto gehe ich in den 43 Drittklässlerinnen und Drittklässlern unter. Ich brachte nicht viel an pädagogischen Weisheiten mit – aber eine unbändige Energie, Lebensfreude und Zuneigung für die erwartungsvollen kleinen Wesen in den Schulpulten vor mir.

Irgendwann in der Mitte des Berufslebens ist mir die Schule abhandengekommen. Plötzlich sollte sie geführt werden wie ein kleines Unternehmen, immer mehr Player waren involviert, neue Konzepte und innovative Programme reihten sich aneinander. Pestalozzis bodenständiges «Mit Kopf, Herz und Hand» hatte ausgedient. Und jetzt wedelt mir meine Schwiegertochter mit dem Aufruf unserer Dorfschule vor der Nase herum. Natürlich wehre ich ab. Nie und nimmer. Kommt überhaupt nicht infrage. Und vor allem: Könnte ich es noch? Natürlich könnte ich es noch – wenn auch nach alter Lehrer Sitte. 

Inzwischen ist der Appell dringender. Eine Lehrkraft wird positiv auf Corona getestet. Drei andere müssen in Quarantäne. Unterstützung ist nötig, wenigstens kurzfristige Übergangslösungen, bis sich geeignete Stellvertretungen finden. Am Abend gehen mir tausend Gedanken durch den Kopf: Wie weit ist meine Solidarität in diesen Zeiten gefragt? Genügt es, wenn ich mich solidarisch an die Schutzmassnahmen halte? Reicht es, wenn ich der Glückskette Geld zukommen lasse? (Übrigens: Spendenstand Coronavirus Schweiz 42 Millionen, Coronavirus international sechseinhalb Millionen.) Oder müsste ich auch in Bereichen Solidarität demonstrieren, die persönliches Engagement, Energie und Zeit fordern? Ich weiss es nicht.

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Beitrag vom 09.11.2020
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Autorin

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