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Paradoxe Hoffnung 20. Februar 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von «Make Love not War» zur brutalen Realität.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Mein erstes Auto war ein Döschwo Fourgonnette. Mein damaliger Freund und ich machten daraus ein Zuhause für unterwegs mit Schlafgelegenheit und Kochmöglichkeit. An die Fenster hängten wir fröhlich bunte Vorhänge. Auf die Karosserie malten wir Blumen, und auf der Kühlerhaube prangte gross das Peace-Zeichen. In den Ferien fuhren wir mit unserem Döschwo nach Marokko, liessen uns auf Zeltplätzen mit Hippies nieder oder übernachteten unter freiem Himmel. «Make Love not War» war die Devise unserer Generation. Zwar schmerzte das kunterbunte Lieben über die verpönte Zweierkiste hinaus, denn Eifersucht und Besitzansprüche liessen sich nicht auf Knopfdruck abstellen. Aber alles war besser als die Zusage an einen Krieg.

Im Lauf meines Lebens wurde ich vielen Grundsätzen untreu, ich wechselte Perspektiven und änderte meine Meinung. Doch ich blieb eine überzeugte Pazifistin. Vielleicht begann es damit, dass mein Vater keine Heldentaten aus dem Aktivdienst erzählte. Er absolvierte seine WKs still und verschlossen. Anekdoten von unverbrüchlicher Kameradschaft, wie sie andere Väter zum Besten gaben, bekamen wir keine zu hören. Als wir ihn – viel später – einmal nach seinen Erlebnissen während der Grenzbesetzung fragten, antwortete er: «Was wollt ihr hören? Wie uns die Lastpferde am Stockhorn abgestürzt sind?» Nein, das wollten wird nicht. 

Im Lehrerinnenseminar vor fünfzig Jahren war Wolfgang Borchert mein Lieblingsdichter. Ich schwärmte für diesen radikalen jungen Mann und kannte all seine Gedichte und seine Erzählungen. Sein Theaterstück «Draussen vor der Tür», in dem ein deutscher Soldat – versehrt, gebrochen, verstummt – in seine verwüstete Heimat zurückkehrt, las ich immer wieder. Wenige Tage vor seinem Tod 1947 in Basel schrieb Borchert das Anti-Kriegs-Manifest «Dann gibt es nur eins: Sag nein!» Ich konnte es auswendig. Später der Vietnamkrieg. Das Foto des nackten Mädchens, das nach dem Napalm-Angriff um sein Leben rennt. Das Bild ging 1972 um die Welt. Mir hat es sich eingebrannt als Symbol der Sinnlosigkeit des Kriegs.

«Die Ukrainerinnen und Ukrainer leben, kämpfen und sterben für unsere Freiheit» schreibt der Bund in einem Leitartikel und liefert damit das Argument für jede erdenkliche Unterstützung aus dem Westen. Im deutschen Spiegel zieht ein Journalist seine vor dreissig Jahren abgegebene Kriegsdienstverweigerung zurück und sagt: «Heute weiss ich, dass ich es mir zu einfach gemacht habe.» Der Pazifismus der Generation «Nie wieder Krieg!» sei seit dem 24. Februar 2022 – seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine – so beliebig geworden wie regenbogenfarbene Peace-Fahnen, schreibt der stellvertretende Chefredaktor des Sonntags Blick. 

Pazifismus als Auslaufmodell. Friedensbewegte stehen im Gegenwind. Im besten Fall werden sie als naiv und ewiggestrig betrachtet. Im schlechtesten als Putinversteher missverstanden. Selbst mein Mann schaut mich nur noch mitleidig an, bevor er die Frage stellt, die jede Diskussion im Keim erstickt: «Wo siehst du eine Lösung?» Natürlich sehe ich keine. Aber er auch nicht. 

«Paradoxe Hoffnung» wünschte mir eine Freundin zum Neuen Jahr. Ohne diese «Hoffnung trotz allem» könne sie nicht leben, schrieb sie. Ich brauche sie auch, dringend. 


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Beitrag vom 20.02.2023

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