König der Löwen 26. Februar 2024
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Weihnachtsgeschenk für die nicht mehr so Kleine.
Die Kleine, die mir inzwischen fast bis zu den Ohren reicht, löst ihr Weihnachtsgeschenk ein: Wir fahren mit dem Zug ins Theater 11 nach Zürich und besuchen das Musical «The Lion King». Wie hat sich doch meine Grosi-Rolle innerhalb weniger Jahre verändert! Erst noch kuschelte sich die Kleine auf meinen Schoss. Stundenlang tauchte ich mit ihr ein ins magische Reich von Elfen und Zwergen. An meiner Hand machte sie die ersten Schritte in eine Welt ohne Mama und Papa. Diese Zeiten sind vorbei. Jetzt kann ich ihr höchstens noch einen schnellen Kuss auf den Haarschopf drücken. Oder ihr den Arm umlegen. Sie ist mit der Schule beschäftigt. Mit ihren Hobbies und Freundinnen. Ich bin höchstens ausnahmsweise noch als Aufgabenhilfe gefragt. Ich mime die ganze Schulklasse, wenn sie ihren Vortrag über ihre liebste Freizeitbeschäftigung üben muss – auf Französisch notabene: «Je fais de l’athlétisme …».
Längst geht sie nicht mehr an meiner Hand. Im Bahnhof in Bern hüpft und springt sie mir die Treppen hoch voraus, und ich keuche hinterher. Die genauen Abfahrtszeiten und Gleisangaben auf der grossen Anzeigetafel hat sie gelesen, bevor ich überhaupt bei ihr angekommen bin. Im Zug spielen wir nicht mehr «Schwarzer Peter» oder «Tschou Sepp». Wir diskutieren über ihr Referat über Reptilien, das sie für die Schule vorbereitet. Ich lerne, dass Wasserschildkröten eine Analblase haben. Wenn es so weitergeht, werde ich schon bald hoffnungslos ins Hintertreffen geraten sein.
Erst im Tram, das uns zum Theater 11 bringt, wird sie wieder zur staunenden Kleinen: die vielen Häuser, Autos und Leute. Nie im Leben würde sie jemals in einer Stadt wohnen wollen! «Weisst Du noch, wie Du mir das Bilderbuch von der Schnecke gezeigt hast, die in Zürich auf der Tramschiene unterwegs ist? Und der Chauffeur muss anhalten, weil er doch eine Schnecke nicht einfach überfahren kann?», fragt sie plötzlich. Ich bin ganz gerührt, dass sie sich daran erinnert.
Dann sind wir im Theater. Erwartungsvoll und mit durchgestrecktem Rücken sitzt die Kleine neben mir. Der Vorhang hebt sich, die Sonne geht über der Serengeti auf und Rafiki, der weise alte Pavian, singt alle Tiere zusammen, um die Geburt des kleinen Löwen Simba zu verkünden. Bereits die ersten zwei Takte elektrisieren mich – meine Afrikajahre sind mir plötzlich ganz nah. Ich lasse mich mitreissen von den Rhythmen und Harmonien der Musik. Ich geniesse die Schönheit und Farbenpracht der singenden und tanzenden Tiere. Vom Disney-Film her kennt die Kleine jeden Dialog, jede Szene und jeden Song. Für mich – die ich höchstens das Eingangslied «Circle of Life» von Elton John im Ohr habe – ist das Musical eine Überraschung.
In der Nacht kann ich nicht schlafen. Meine Gedanken gehen weit in die Vergangenheit zurück. Als ich während meiner Afrikajahre mit anderen sogenannten «Entwicklungshelfern» – was für ein peinliches Wort in der heutigen Zeit – in einem alten Jeep in einem tansanischen Nationalpark unterwegs war. Damals gab es noch keine Rangers, Führer oder Lodges. Und kaum Touristen. Ich erinnere mich an die Weite des afrikanischen Graslands, den Zauber der Tierwelt, die schneebedeckte Kuppe des Kilimandscharo, die Unbeschwertheit von uns jungen Menschen. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, wer ich nun eigentlich bin: die junge Frau von damals oder das alte Grosi von heute.
Am nächsten Morgen hole ich den Holzschemel aus der Versenkung, den ich damals einem einheimischen Handwerker auf dem Weg zum Kilimandscharo abgekauft habe. Er ist aus einem Stück Baumstamm geschnitzt. Sorgfältig entferne ich den Staub und die Spinnweben, die sich auf dem massiven Schemelchen angesammelt haben. Mit der Hand spüre ich den eingebrannten Kerben nach. Ich denke an den alten Mann, der daran gearbeitet hat. Dankbar stelle ich das kleine Möbel aus meiner Vergangenheit neben mein Pult: All das Erlebte hat aus der jungen Frau von einst eine reich beschenkte Grossmutter gemacht.
- Fühlen Sie sich auch als reich beschenkte Grossmutter? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns von Ihren Erfahrungen erzählen oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»
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