Kleine Schritte 31. Mai 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom zögerlichen Umgang mit den neuen Freiheiten.
Zufrieden sitze ich nach Feierabend im Sessel, vor mir meine Lieblingstasse mit einem Münzentee aus dem Garten, und lese in meinem spannenden Lübeck-Krimi. Plötzlich ertönen aus dem oberen Stock laute Fernsehgeräusche. Mein Mann verfolgt den Champions-League-Final: Er findet in Portugal statt und Manchester spielt gegen Chelsea – so viel habe auch ich Fussball-Muffel mitgekriegt. Genervt rolle ich die Augen. Wir haben doch abgemacht, dass er Fussballspiele über Kopfhörer verfolgen soll. Seine Stimme übertönt den Fernsehlärm: «Hörst du den Unterschied?»
Ich höre nur das Übliche: Die Stimme des Kommentators und eine laute Fussballkulisse. Ich steige die Treppe hinauf, mein Mann strahlt mir entgegen: «Das ist doch endlich wieder eine Fussballstimmung, wie sie sein sollte.» Erst jetzt realisiere ich, dass auf den Tribünen Zuschauerinnen und Zuschauer sitzen, die Fahnen und Halstücher schwenken und Fangesänge schmettern. Zwar sieht man viele freie Plätze, andernorts jedoch stehen die Fans in dichten Trauben zusammen. Einige tragen Masken, andere haben keine auf. Von Abstand scheinen viele der Fussballbegeisterten nichts zu halten.
Ich schaue ungläubig auf den Fernsehschirm. Sind das tatsächlich Live-Bilder? So viele Menschen so nah beisammen? Die miteinander johlen und jubeln? Ich bekomme ein mulmiges Gefühl und zweifle plötzlich, ob ich je wieder meine frühere Alltagstauglichkeit erlange: Nach wie vor weiche ich einen Schritt zurück, wenn mir jemand zu nahekommt. Umarmungen sind immer noch den engsten Familienangehörigen vorbehalten. Trotz der sinkenden Fallzahlen und der optimistischen Prognosen habe ich zahlreiche mir liebe Menschen seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen. Und auch wenn man wieder dürfte: Das Singen im Chor ist mir immer noch etwas unheimlich.
Öffnungsschritte stehen an, und man wagt sich noch gar nicht richtig, sie wahrzunehmen. Am Pfingstsamstag ging ich ins Kino – ein Publikum von fünf Personen hatte den ganzen Kinosaal für sich allein! Am Pfingstmontag war ich an ein Konzert zu Ehren der Berner Troubadours eingeladen. In meiner Sitzreihe hatte ich mehr als genug Platz für Jacke und Tasche und ich fragte mich, ob ich wieder einmal die Sessellehne mit einem fremden Sitznachbarn oder einer Nachbarin würde teilen können. Selbst in meinem Lieblingsrestaurant auf dem Schlosshügel über Thun habe ich uns noch keinen Tisch reserviert. Mehr als ein Jahr Distanz hat Spuren hinterlassen.
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