«Kleine Fragebögen» 22. Mai 2023
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Versuch, die spärliche Sportlichkeit zu verbessern.
Den ganzen März über und bis in den April hinein trugen mein Mann und ich einen «Bewegungsmelder» um unseren Bauch – offiziell ein Aktivitätsmessgerät. Unfreiwillig freiwillig: Die Tochter eines Freundes meines Bruders suchte für ihre psychologische Masterarbeit Personen über 65, die sich gerne bewegen. Wir bewegen uns allein wegen des Hundes je nach Wetter mehr oder weniger gern. Doch da die junge Studentin offensichtlich händeringend nach «Versuchskaninchen» suchte, und wir jungen Menschen grundsätzlich gern entgegenkommen, sagten wir zu – getreu unserer Devise «Wir sind pensioniert und haben Zeit».
Zu Beginn des Experiments werden wir über unser Bewegungsverhalten ausgefragt und über die Studie aufgeklärt. Erst da realisiere ich das Ziel: «Selbstständig Strategien erlernen und testen, um körperlich aktiver zu sein …» Eigentlich will ich das ja gar nicht. Auch suche ich keine Möglichkeit, «eigene Bewegungsziele zu formulieren und auszutesten.» Trotzdem ertappe ich mich dabei, wie ich den Vorstellungen von Studie und Studentin gehorsam nachzukommen versuche. Ich formuliere neben der täglichen Hunderunde und dem wöchentlichen Knieturnen im Fitnessraum in der Nachbargemeinde ein neues Ziel: «Zehn Minuten Morgenturnen.» Während meinem Mann die Vorgaben piep egal sind, spüre ich einen gewissen Druck. Und das mit ü71!
Jeden Morgen schnallen wir den Gurt mit dem Gerät um. Der Gummizug ist unbequem, meist rutscht er mir über den Bauch hoch. Jeden Abend ploppt ein WhatsApp auf: «Willkommen zum Tagesrückblick und zur Abendbefragung!» Und wir sollten doch bitte die «kurzen Fragebögen bezüglich unserer körperlichen Aktivität» ausfüllen. Die «kurzen Fragebögen» entpuppen sich als abendliches Ritual mit 67 (!) Fragen und einem wöchentlichen Fragebogen zur Steigerung der vorgenommenen Aktivitäten. Nach einer Woche beginne ich zu murren: Auf welchem akademischen Mist sind diese Fragen gewachsen?
«Wie sicher sind Sie, dass Sie körperlich so aktiv sein werden, wie sie sich vorgenommen haben, auch wenn Sie keine Lust darauf haben?» oder «Haben Sie sich heute Ihren Vorsatz, körperlich so aktiv zu sein, wie Sie es sich vorgenommen haben, vor Augen gehalten?» oder «Haben Sie heute genau darauf geachtet, so körperlich aktiv zu sein, wie Sie es sich vorgenommen haben?» Bereits nach einem Dutzend Fragen schwirrt mir der Kopf, weil ich sie nicht mehr auseinanderhalten kann. Gefragt wird aber auch, ob ich spüre, «dass ich den Menschen, die mir etwas bedeuten, wichtig bin», oder ob ich für die Menschen um mich «ein warmes Gefühl empfinde». Meine Lieblingsfrage: Ob ich mich aufgrund der Fehler, die ich gemacht habe, als «Versager» fühlen würde? Als Versager! Und da wagt eine politische Partei zu behaupten, der Genderwahn gedeihe an Universitäten!
Ich bin froh, kann ich nach 35 Tagen den «Bewegungsmelder» abgeben, das Morgenturnen wieder vergessen und meine tägliche Hunderunde machen, ohne darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Letzte Woche bekam ich die Auswertung meiner Daten – 71 Seiten voller Grafiken und Modelle. Irgendwann in wohl fernerer Zukunft wird besagte Studie über das Bewegungsverhalten älterer Menschen und die Frage, wie es verbessert werden kann, publiziert. Mit meinem mühevoll erbrachten Beitrag als winziges Puzzleteilchen. Ich bin ja gespannt!
- Haben Sie auch schon Erfahrungen mit «Bewegungsmeldern» gemacht? Was halten Sie davon? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns schreiben oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»
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