Impfen statt schimpfen 8. November 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Plakaten, hoffnungslosen Gesprächen und gemachten Meinungen.
Sie sind nicht zu übersehen, die Plakate gegen das Covid-19 Gesetz. Sie hängen von Balkonen und Zäunen, kleben an Hauswänden und Ställen und stehen an Weg- und Strassenrändern. In grossen Buchstaben warnen sie vor Impfzwang, Massenüberwachung und Diskriminierung. Sie wollen Kinder schützen – wovor, erschliesst sich mir nicht – und wehren sich gegen die Dauerimpferei. Ausgerechnet die SVP fragt: «Gesellschaft spalten?» und behauptet «Nicht mit uns!» Nur das Inserat beim Bahnhof tanzt aus der Reihe. «Impfen statt schimpfen» steht über dem «Freiheitsimpfler» mit Gallierschnauz. An seinem Holzjoch hängen Treicheln, in denen anstelle des Klöppels eine Spritze pendelt.
Meine langjährige Hundefreundin aus dem Nachbardorf schickt mir einen Artikel unter dem Titel «Verfassungswidrig» aus der Schweizerzeit, und sie hoffe von Herzen, dass das Gesetz abgelehnt würde. Ich schreibe zurück, dass ich ihm selbstverständlich zustimmen und mich grundsätzlich weder mit der Schweizerzeit noch mit deren Chefredaktor ins Lotterbett legen würde. Sie sagt, ich müsse unbedingt das neue Buch von Sucharit Bhakdi lesen. Der Mikrobiologe würde darin haargenau erklären, warum Wissenschaft, Politik und all die Geimpften auf dem falschen Dampfer sitzen. Darauf gebe ich keine Antwort mehr.
Noch zieren nette Smileys unsere gegenseitigen WhatsApp-Nachrichten. Wir gehen mit den Hunden spazieren, ohne uns in die Haare zu geraten. Geimpft und ungeimpft nehmen wir einander in den Arm und sitzen zusammen am gleichen Tisch. Wir reden miteinander, aber ich argumentiere nicht mehr. Es hat keinen Sinn. In der Sonntagszeitung lese ich ein Interview mit der österreichischen Psychiaterin und Neurologin Heidi Kastner: Wenn die Waschmaschine kaputt sei, hole man sich selbstverständlich einen Fachmann. Doch bei komplexen Themen wie jetzt der Pandemie, wimmle es von selbst ernannten Fachleuten. Man könne sich die Mühe, den Ärger und die Zeit sparen, mit Menschen zu diskutieren, die das Recht auf eine eigene Meinung mit dem Recht auf eigene Fakten verwechseln.
«Nationale Impfwoche – gemeinsam aus der Pandemie» hoffen Bund und Geimpfte. Vielleicht erreicht die angelaufene Kampagne noch Trödler wie den Partner meiner Tochter, der aus Bequemlichkeit die Impfung immer weiter hinausschob. Oder Abwartende wie eine Cousine, die zuerst schauen wollte, mit welchen Nebenwirkungen Geimpfte zu kämpfen hätten. Menschen wie meine Hundefreundin aus dem Nachbardorf wird sie nicht überzeugen. Auch nicht eine mir liebe Bekannte, Pflegefachfrau, die unbekümmert meint: «Ich bin halt mehr der homöopathische Typ.» Und ganz sicher lässt sich auch unser Schreiner, der gleichzeitig Bio-Kleinbauer und Bestatter ist, nicht impfen. Er weiss, warum: «Ich kann Kaninchen metzgen, ich kann Tote einsargen, aber ich kann keine Spritzen sehen.»
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