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Hundert Tage 29. Oktober 2024

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom strapazierten Geduldsfaden und einem Lob auf Mitmenschen. 

Heute sind es genau hundert Tage her, dass ich mir den Fuss gebrochen habe und mein buntes Pensionierten-Leben jäh auf den Kopf gestellt wurde. Hundert Tage mit Gips und Rollstuhl, Krücken und Schmerzen, Schulter-Operation und einem «Gstältli» um Brust und Arm. Und ausgerechnet jetzt, wo das Ende abzusehen ist, verliere ich die Geduld. Hundert Tage fast ausschliesslich beschränkt auf Wohnung, Dörfli sowie Arzt- und Physiotermine – das ist in meinem Leben noch nie vorgekommen. Zu sehr war ich immer nach aussen orientiert. Jetzt zähle ich die Tage, Nächte und Stunden bis zum Kontrolltermin Ende Woche, wo ich hoffentlich die Schulterorthese loswerde.

Eigentlich hätte ich Energie und Lust, wieder etwas zu tun. Doch noch setzt mir mein Körper Grenzen. Meine Wanderungen sind höchstens laue Spaziergänge. Ich kann noch nicht wieder Auto fahren. Das Essen im Teller muss man mir zerkleinern. Beim Duschen brauche ich Hilfe. Seit hundert Tagen mache ich alles – im wahren Sinn des Wortes – mit links. Die kleinsten Herausforderungen entpuppen sich dabei als Hürden: essen, Haare waschen, am Computer schreiben. Mit der linken Hand ein Sudoku zu lösen oder eine Einkaufsliste zu erstellen macht mich ganz kribbelig. Und so werde ich – statt mich auf das Ende der eingeschränkten Tage zu freuen – gereizt und unausstehlich. Ich mag nicht mehr warten.

Einen halben Tag lang streite ich mit meiner Freundin aus Seminarzeiten per WhatsApp darüber, ob die amerikanische Publizistin Anne Applebaum, die sich für militärische Aufrüstung und Abschreckung ausspricht, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels tatsächlich verdient hat. Ich kann mich endlos darüber auslassen, als ich im Coop Kefen aus Sambia entdecke. Wer braucht im Oktober eigentlich Kefen? Und hat Sambia mit seiner mausarmen Landbevölkerung nichts anderes zu tun, als für die westliche Welt Kefen anzupflanzen? Ich lese Nachrichten und Leserkommentare und halte meinem Mann Vorträge, dass sich die Menschheit in den Abgrund reitet und letztlich nichts Besseres verdient hat. 

Dabei sind es gerade die Menschen, die mich durch diese hundert Tage getragen haben. Immer war jemand da – zum Reden, für einen Kaffee, zum Zeit vertreiben, manchmal zum Spielen. Jemand, der das Essen brachte oder uns den Hund abnahm, wenn alles zu viel wurde. Ich bekam Besuch, wann immer ich wollte, dazu Telefonanrufe, WhatsApp, Nachrichten, Mails. Ich brauchte nie das Rotkreuz-Taxi zu rufen. Wenn mich mein Mann nicht fahren konnte, sprangen meine Schwiegertochter, ein Freund oder eine Nachbarin ein. Allein sein musste ich nur, wenn ich selber es wollte. Eigentlich müsste ich zutiefst dankbar sein. Warum nur ist meine Ungeduld so viel drängender als meine Dankbarkeit?

Wieder kommt mir ein Gedicht von Rose Ausländer in den Sinn – eine Liebeserklärung an all die Menschen, die sich für einen liebevollen Umgang miteinander und für eine lebenswerte Umwelt einsetzen:

Die Menschen
Immer sind es
die Menschen
Du weisst es.
Ihr Herz
ist ein kleiner Stern
der die Erde
beleuchtet.


  • Haben Sie auch schon die Geduld mit sich und Ihrer Situation verloren – so wie unsere Kolumnistin? Und hätten Sie Lust, davon erzählen? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns an Ihren Gedanken teilhaben lassen oder die Kolumne teilen. Herzlichen Dank im Voraus.
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Beitrag vom 29.10.2024
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin
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