Hochzeitstag 22. August 2022
Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der Zeit und der Frage, ob sie schnell oder langsam vergeht.
Unser Pfarrer-Freund bringt eine Flasche Wein. «Wisst Ihr noch, vor 36 Jahren?» Er hatte uns damals getraut. Seit er gemerkt hat, wie nachlässig wir mit unserem Hochzeitstag umgehen, erinnert er uns jedes Jahr daran. Ein heisser Tag war es gewesen. Ich schwitzte in meiner Gotthelf-Tracht mit dem schweren Rock und dem schwarzen Samtmieder. Der Kirchenchor sang, der Dirigent spielte Trompete, und statt des Ja-Worts hatten mein Mann und ich füreinander ein Gedicht ausgewählt. Das anschliessende Fest dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Später ging der Hochzeitstag vor lauter Alltag meistens vergessen. Bis vor wenigen Jahren unser Pfarrer-Freund begann, uns daran zu erinnern.
Während meines Pensionierten-Aufräumprojekts hatte ich die Schachtel mit den Hochzeitskarten gefunden und sie eigentlich ungeöffnet gleich wegwerfen wollen. Jetzt stossen mein Mann und ich mit dem geschenkten Wein an und sehen sie zusammen durch: selbstgemachte, vorgedruckte, kunstvolle Glückwunschkarten, kurze und lange Texte, alte und junge Schriftzüge. «Gottes Segen» wünscht die Walliser Verwandtschaft, «es Härz voll Liebi, es Chrättli voll Glück, all Tag e heitere Sunneblick» reimen die Verwandten aus dem Emmental. Auch Telegramme gab es damals noch, die der Postbote direkt ans Fest brachte. Die «Checkliste für Traupaare» von der Kirchgemeinde ist nur an den Mann adressiert.
So viele der damaligen Glückwünschenden sind inzwischen tot. Unsere Eltern-, Onkel- und Tanten-Generation gibt es nicht mehr. Aber auch Gleichaltrige, nahe Freundinnen und Freunde, sind gestorben. Einen Moment lang bin ich versucht, die Karten auf zwei Beigen zu stapeln. Ich bin fast sicher, die Beige mit den Verstorbenen wäre höher. Wir holen das Hochzeitsalbum hervor, blättern durch die Seiten. Wie jung wir damals waren – mein Mann schlank und schwarzhaarig, ich ebenfalls mit deutlich weniger Kilos und einem frischen, neugierigen Blick. Wie merkwürdig ist die Zeit: Der Tag unserer Hochzeit ist mir so präsent wie mein siebzigster Geburtstag im letzten Dezember.
Hätte ich mir damals überhaupt vorstellen können, dereinst 36 Jahre älter zu sein? Wahrscheinlich nicht. Ich weiss noch, wie mein Mann mit zwanzig – damals war er erst der Freund meines Bruders – die Nachricht bekam, seine Mutter sei gestorben. Sie wurde sechzig Jahre alt und ich dachte, da müsse man doch nicht traurig sein. Eine so steinalte Mutter dürfe in Ruhe sterben. Inzwischen habe ich seine Mutter schon um zehn Jahre überlebt, ohne mich steinalt zu fühlen.
Die Zeit ist ein merkwürdiges, geheimnisvolles Phänomen. Ich kann nicht sagen, ob sie schnell oder langsam vergeht. Bin ich jetzt eigentlich schon oder erst acht Monate pensioniert? Einerseits dünkt mich mein letzter Arbeitstag eine Ewigkeit her. Andererseits fühle ich mich noch mitten im Geschehen. Dass die Zeit mit dem Alter immer schneller vergeht, habe ich bis jetzt noch nicht so empfunden. Mir ist aber bewusst, dass ich nicht mehr allzu viel davon habe. Schon morgen kann alles anders sein. Gerade deshalb ist mir meine verbleibende Lebenszeit kostbar. Ich möchte sie nicht vertrödeln.
- Wie haben Sie es mit der Zeit? Haben Sie auch das Gefühl, dass sie schneller vergeht, je älter Sie werden? Erzählen Sie uns doch davon. Herzlichen Dank im Voraus.
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Proficiat, sagten wir in der alten Heimat, wenn jemand frisch pensioniert war und die 65 gesund erleben durfte. Sie, wie ich auch ich, gehören zu den Sonntagskindern, wir durften bis 70 bzw. 75 arbeiten. Ich allerdings im 40 % Pensum, in einem geistig anstrengenden Beruf. Sie sind geistig ebenfalls topfit und ich denke, wir verdanken das, neben dem Herrgot auch der langen, belebenden Arbeitszeit. Was das Kistenleeren betrifft: Auch das probiere ich. Es wird Zeit. Aber ich bin sehr langsam. Ich werde jetzt sehr gerne Ihre Geschichten lesen und hoffe es beflügelt mich zum Weitermachen – Gott ist das mühsam und zeitraubend. Was hat man sich nur dabei gedacht, als man alles was interessant sein könnte, hortete.