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Hallo Gipsfuss 30. Juli 2024

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von einem Augenblick der Unachtsamkeit und seinen Folgen.

So schnell ist es passiert: Ich steige aus dem Zug, schaue dem letzten Wagen nach, stolpere über eine Unebenheit, fliege der Länge nach hin und komme nur mit grosser Mühe und fremder Hilfe wieder auf die Beine. Meine bewährte Strategie «nur nicht darauf achten, es geht wieder vorbei» verfängt diesmal nicht. Nach drei Tagen humpeln und leiden fährt mich mein Mann zur Hausärztin. Einer der Mittelfussknochen ist gebrochen. Kompetent versorgt mich das Multi-Kulti-Team der Orthopädie-Klinik: der Glarner Sportarzt mit norwegischem Namen, der deutsche Professor, die Röntgenassistentin aus dem Balkan und der Gipsfachmann mit tibetischen Wurzeln. Nach zwei Stunden bin ich wieder draussen, mit einem Gips mit Hundepfoten-Design und einem Markenschuh namens Darco. 

Mein Gipsfuss darf nicht belastet werden. Mit meiner kaputten Schulter, die ich nach einem Unfall vor dreizehn Jahren zurückbehalten habe, kann ich nur schlecht an Krücken gehen. Sitzen, den Fuss hochlagern oder liegen wäre angesagt. Ausgerechnet! Ich kann mich ja auch im normalen Alltag kaum stillhalten. Auf meinem Bürostuhl rolle ich durch die Küche und frage mich, wie die nächsten 31 Tage – so lange bleibt mir der Gipsfuss erhalten – auszuhalten sein sollen. An meinem Mann bleiben neben einkaufen, kochen und putzen sämtliche Hundespaziergänge, die wöchentliche Wäscherei und tausend kleinere und grössere Handreichungen hängen. 

Ich lade mir eine zweitausendseitige Neuseeland-Saga auf den Reader. Eine fiktive Geschichte vor historischem Hintergrund. Keine Ahnung habe ich von der Maori-Kultur. Ich weiss auch nur wenig von der bitteren Armut, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts so viele mittellose Kleinstbauern und Landarbeiter reicher Gutsherren in Irland, England und Deutschland zur Auswanderung zwang. Ich lese stunden- und seitenlang. Wie ein Film zieht das Schicksal von Kathleen und Michael an meinem inneren Auge vorbei. Wenn immer möglich ziehe ich mich nach Neuseeland zurück. Das geht auch mit Gipsfuss.

Schliesslich entdecke ich eine vergnügliche Abwechslung: Im Radio ertönt ein Beatles-Song. Auf dem Handy öffne ich YouTube, ich will meinem Mann meine erste Single von den Beatles zu hören geben: «She loves you, yeah, yeah, yeah …» Eins führt zum anderen: Gabs nicht mal einen Sänger namens Ronny? Oder Gus Backus? Ich rufe «Es geht eine Träne auf Reisen» von Adamo auf und klicke Rex Gildo an. Meine Güte – sowas hörte ich tatsächlich als «Backfisch», wie unsereins damals genannt wurde. Immer mehr längst vergessene Namen tauchen auf, Schlager, Blauring-Lieder, Kirchenlieder aus dem damaligen «Laudate» oder sogenannte «Negro Spirituals». Im Internet findet sich alles.  

Ich kann nicht mehr aufhören: Das Lieblingslied meines Walliser Grossvaters «Wie die Blümlein, draussen zittern …» und dasjenige meiner Oberaargauer Grossmutter «Wenn d’Schneeballe blüjet im Mai …» Meine unvergesslichen Georges Moustaki oder Leonard Cohen. Gilbert Bécaud und Jacques Brel. Ich lese das Gedicht nach, das ich an der Schlussprüfung im Seminar so inbrünstig den Experten entgegen geschmettert habe. «Der Föhn» von Alfred Huggenberger: «Ein grauliches Stöhnen in Grund und Schlucht, schwer hängt überm Tal der Berge Wucht …» Längst im Bett fröne ich weiter meinem neuen Hobby: Vom Gedicht «John Maynard» weiss ich noch den Anfang, von «Nis Randers» nur den Schluss. Von «Die Füsse im Feuer» habe ich noch Bruchstücke im Kopf.

Mit meinen Lied- und Vers-Grübeleien ist wieder ein Tag vergangen. Es bleiben noch dreissig. Ich muss mir irgendeine Strategie überlegen, sonst vergeht die Zeit überhaupt nicht. Wie das wohl Leidensgenossinnen und -genossen machen? 


  • Waren Sie auch schon infolge einer Verletzung «ans Haus gefesselt»? Und womit haben Sie sich in dieser Zeit beschäftigt? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
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Beitrag vom 30.07.2024
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin
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