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Fussballfieber und Weihnachtsdekoration 28. November 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von WM- und Schwedenleuchter-Boykott.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

In den Wochen vor der Fussball-WM mutiert mein Mann zum alten Revoluzzer von früher. Er werde sich bestimmt keines dieser Spiele anschauen, sagt er. Ich staune ungläubig: Mein Mann, dieser Fussballfan? Der in der Regel kein WM-, EM- und schon gar kein YB-Spiel verpasst? Der in seinem Berufsleben als Gemeindeschreiber die Gemeinderatssitzungen und Gemeindeversammlungen um die Fussballdaten herum drapiert hat? Jetzt soll in unserem Haushalt Boykott angesagt sein? Keine Frage – ich bin dabei. Als Fussballbanausin, die noch nie während eines ganzen Spiels vor dem Fernseher sitzen blieb, fällt es mir allerdings auch nicht schwer.

Gründe, auf die WM-Übertragung zu verzichten, gibt es wahrlich zur Genüge: missachtete Menschenrechte, gekaufte Spiele, ökologischer Wahnsinn. Allein die vielen Gastarbeiter auf den WM-Baustellen, die gestorben sind, damit die Welt ihr Fussballfest feiern kann! Unverständlich für meinen alternden Fussballfan, dass die Weltmeisterschaft in einem Wüstenstaat mit null Fussballtradition stattfindet. Oder dass die Fifa als gemeinnütziger Verein keinen Rappen Steuern zahlen muss, obwohl sie dank der WM in Katar Milliardengewinne einstreicht. Dass sie einen skrupellosen Präsidenten hat, der den vorherigen noch toppt. All diese Argumente scheinen 2022 mehr zu wiegen als Fussballfieber und -freude.

Zumal er mit seiner Meinung nicht allein ist. In den Medien und im Freundeskreis rufen Stimmen laut nach Boykott. Sie werden jedoch leiser und weniger, je näher die WM rückt. Auch mein Mann beginnt, zumindest mit den Spielen der Schweizer Nati zu liebäugeln. Und vielleicht mit dem Final. Beim Eröffnungsspiel zwischen Katar und Ecuador sind wir in der Stadt und kommen zufällig an einem Restaurant vorbei, in dem auf einer grossen Leinwand der Match läuft. Statt weiterzugehen, bleiben wir einen Augenblick stehen und sehen durchs Fenster, wie der ecuadorianische Spieler den Ball im gegnerischen Tor versenkt. Eine WM ist halt doch eine WM. Zwei Tage und zwei Halbzeiten später ist König Fussball trotz aller guten Vorsätze wieder da. Die Begeisterung hält sich allerdings in Grenzen, das schlechte Gefühl bleibt. 

Während mein Mann am ersten Adventssonntag das Spiel Deutschland-Spanien verfolgt, hole ich die Schachtel mit dem Adventsschmuck vom Estrich. Ich stelle auch dieses Jahr den schwedischen Leuchter meiner Eltern ins Fenster. Ich weiss, es sind keine Led-Lämpchen … Als ich an diesem Abend noch mit dem Hund hinausgehe, traue ich meinen Augen nicht: Es ist stockfinster! Weit und breit brennt kein Adventslicht! Kein Stern, keine Lichterkette, keine Leuchtgirlande! Wo es sonst farbig blinkt, Hauseingänge geschmückt und Fassaden erleuchtet sind, ist es dieses Jahr dunkel. Mein schwedischer Leuchter fällt so sehr auf, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich nicht ebenfalls darauf verzichten müsste. 

Nebst Fussball und Weihnachtsbeleuchtung hält auch noch das schlechte Gewissen Einzug. Was für eine merkwürdige Zeit. 

  • Verfolgen Sie die Fussball-WM? Und verzichten Sie auch auf die Weihnachtsbeleuchtung? Teilen Sie Ihre Gedanken doch mit uns. Wir würden uns darüber sehr freuen. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 28.11.2022

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