
Digitale Auszeit 23. April 2025
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Ferien ohne Internet und dem ewigen Wunsch nach Frieden.
Habe ich tatsächlich eine Ferienunterkunft ohne WLAN gebucht? Ich war so begeistert, als ich auf einer der zahlreichen Internet-Plattformen dieses kleine, weisse Häuschen direkt am Wasser entdeckt hatte. Am Ende einer Sackgasse, am Rand eines kleinen Dorfes auf der Insel Usedom gelegen, strahlte es eine idyllische Ruhe und Behaglichkeit aus. Erst als wir nach unserer Ankunft ein Netzwerk für unsere Handys und den Laptop suchten, realisierte ich, wie wenig ich mich über die Ausstattung informiert hatte. Natürlich fragte ich gleich beim Vermieter nach. Dieser wünschte einen tollen Aufenthalt, «auch wenn Sie die nächsten zwei Wochen unfreiwillig einen digital detox erhalten». Da die im Handy-Abonnement enthaltene Datenmenge begrenzt ist, ist digitales Sparen angesagt.
In den Wochen vor den Ferien war mir unter all den Artikeln über den toten Papst, den verrückten Präsidenten und die europaweite Aufrüstung ein Beitrag der deutschen Korrespondentin Kristiana Ludwig aus Tel Aviv besonders unter die Haut gegangen. «Ohne Esel geht in Gaza nichts mehr», lautete der Titel. Das Bild zeigte ein Eselchen, das einen vollbepackten Karren mit den Habseligkeiten einer palästinensischen Familie zieht. Das dazugehörige Zitat war von einem Tierarzt: «Ich hungere, mein Volk hungert, und unsere Tiere hungern.» Der Artikel liess mich nicht mehr los, der Weltschmerz hatte mich wieder. In solchen Momenten spüre ich meine Ohnmacht und verzweifle schier daran. Deshalb würden mir zwei Wochen Nachrichtenabstinenz vielleicht ganz guttun.
Ich sitze am Tisch in unserem Ferienhäuschen und blicke aus dem grossen Fenster. Eine Wasserrinne teilt den breiten Schilfgürtel, der sich davor ausdehnt. Darauf tummelt sich eine Entenfamilie, mindestens neun Kleine zähle ich. Der Kuckuck – wann habe ich zum letzten Mal einen Kuckuck gehört? – ruft fast unablässig. Er hat südlich des Äquators überwintert und in den letzten Wochen Tausende von Kilometern zurückgelegt, um in sein Brutgebiet zurückzukehren. Diese Reise – was für ein Wunder! In der Nacht habe ich ein Froschkonzert direkt vor meinem Schlafzimmer. Wenn das Gequake einen Moment aufhört, höre ich immer noch den Wind durch das Schilf rauschen. Dann wünsche ich mir nichts anderes, als dass wenigstens die Natur vor uns Menschen verschont bleibt.
Jeden Tag verlassen wir unsere Idylle am Achterwasser – so nennt sich die Lagune, die den nördlichen Teil der Insel Usedom vom Festland trennt. Wir besuchen die berühmt-mondänen Ostseebäder Heringsdorf und Ahlbeck, flanieren über die Promenade, lassen uns auf den Seebrücken vom Wind die Haare zerzausen und bewundern die Bäderarchitektur. Wir spazieren dem Meer entlang und wandern durch Naturschutzgebiete und über Steilküsten. An einem Stand erstehen wir uns ein Fischbrötchen, und in einer Hafenkneipe stossen wir mit einem Glas Rosé an. Den Schlagzeilen entnehmen wir, dass ein österreichischer Opernsänger den ESC gewonnen hat und der neue Papst in sein Amt eingeführt wurde. Details brauche ich keine. Es ist schön und verführerisch, sich vom Weltgeschehen fernzuhalten. Und trotzdem fühlt es sich nicht ganz richtig an: Als würde ich die Welt im Stich lassen.
Die Aktualität holt mich dann doch wieder ein. Wir besuchen das Historisch-Technische Museum in Peenemünde, die einstige Heeresversuchsanstalt für die Entwicklung von Waffensystemen mit Raketenantrieb. Der Ausbau der Anlagen war nur mit dem Einsatz von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen möglich. Direktor der Anstalt war Wernher von Braun, den ich in der Schule als «Vater der Raumfahrt» bewundert hatte. Dass er am Tod von mindestens 20’000 Menschen mitschuldig ist, gehörte nicht zum Schulstoff. Ich besuche die Gedächtniskapelle, die neben dem Gelände zum Nachdenken und Verweilen einlädt. Beim Eingang steht: «Die Wiege der Raketen wurde den Opfern zum Grab.» Im Inneren liegt ein Buch auf, in das Besucherinnen und Besucher ihre Bitten und Gebete schreiben können. Der letzte Eintrag lautet: «Für meine Enkelin von ihrer Oma Helga: Für immer Frieden.»
- Haben Sie auch schon freiwillig oder gezwungenermassen eine digitale Auszeit erlebt? Wie hat es sich angefühlt? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»


Sie besitzen noch kein Abonnement der Zeitlupe?
Abonnieren Sie die Zeitlupe und lesen Sie alle unsere Artikel auch online.
Ich möchte die Zeitlupe abonnieren