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Der Ernst des Lebens 19. September 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der Kleinen, die langsam grösser wird.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Noch immer bevölkern Dinosaurier unser Generationenhaus. Nur sind die knuddeligen Kuscheltiere inzwischen dicken Büchern gewichen, und das kindliche Staunen der Kleinen hat sich in sachliches Interesse gewandelt. Ein Ausflug zu den Urtieren gehört aber immer noch zu den Ferien-Höhepunkten. In diesem Sommer fuhren wir nach Cernier im Neuenburger Jura. «Erleben Sie ein unglaubliches Abenteuer zur Zeit der Dinosaurier» lockte die Broschüre. Noch vor zwei Jahren hatte die Kleine in der Ausstellung «Welt der Dinosaurier» meine Hand genommen. Jetzt eilt sie voraus, mustert kritisch die einzelnen Exponate und liest die dazugehörigen Informationstafeln.

Ich mache Fotos: Die Kleine, wie sie auf einem Tyrannosaurus Rex reitet. Den aus Eiern schlüpfenden Dino-Nachwuchs studiert. Mit den Augen dem langen Hals des Brontosaurus in die Höhe folgt. Die Erinnerungen will sie unbedingt festhalten. Unter ifolor.ch lege ich für sie ein Fotobuch an und zeige ihr, wie sie es gestalten kann. Seither brütet sie so oft sie kann über den einzelnen Seiten. Jedes Bild wird kommentiert: «Knurr! Zisch! Die Oviraptoren greifen an! Ein Iguanodon kämpft um sein Leben» oder «Der Dino pirscht sich an. Seine eidottergelben Augen leuchten.» Sie experimentiert mit Schriftfarben, Bildgrössen und Hintergründen, ich darf nur bei der Orthographie helfen.

Ich schaue sie an, wie sie über die Tastatur gebeugt an meinem PC sitzt, neben sich einen Stapel Bücher. Wie gross sie geworden ist! Nicht nur, dass sie mir bereits bis zur Schulter reicht. Grosi-Geschichten sind schon länger nicht mehr gefragt, ein Müntschi kann ich ihr höchstens noch im Vorbeigehen auf den Haarschopf drücken. Die magische Zeit der Zwerge und Feen ist vorbei, ebenso das kindliche Staunen über die Wunder der Welt. Auch in der Schule hat der Ernst des Lebens begonnen: Als Drittklässlerin muss sie jetzt ohne Fehler schreiben lernen, und Französisch steht als erste Fremdsprache im Stundenplan. Der Mittwochnachmittag ist mit Wahlfächern und Leichtathletik belegt, und YB sei ihr Lieblingsfussballclub, sagt sie zur Freude ihres Grossättes.

Kann es sein, dass die unbeschwerten Kinderjahre bereits zu Ende gehen? Die Pubertät setze heute zwischen neun und zehn Jahren ein, lese ich im Internet. Noch zu gut erinnere ich mich an die schwierige Zeit mit Sohn und Tochter. Während diese von ihren Hormonen durchgeschüttelt wurden und ihre Eltern auf den Mond wünschten, erlebte ich eine Achterbahnfahrt zwischen Wut und Angst: Wut über diese mir fremd gewordenen Ungeheuer, die so gar nicht mehr zu mir passten. Und Angst, sie an eine mir unbekannte Welt zu verlieren. Mit meiner Liebe hatte ich sie vor allem Unheil bewahren wollen – doch sie schienen diese Liebe gar nicht zu wollen und das Unheil geradezu zu suchen.

«Grosi, ich habe wieder einen Satz geschrieben – wollen wir korrigieren?» tönt es vom Schreibtisch her. Die Kleine macht mir Platz, und ich setze mich vor den PC. Ich spüre ihren Arm, der sich um meine Schulter legt. Ganz weich wird mein Herz. Einmal mehr wünsche ich mir nichts anderes, als dass dieses Kind seinen Weg findet und ihm nichts Böses geschieht. Die Worte eines alten Lehrerkollegen kommen mir in den Sinn: «Irgendwann haben wir keinen Einfluss mehr auf unsere Kinder. Dann können wir nur noch darauf vertrauen, dass der Boden, den wir ihnen gegeben haben, sie auch in schwierigen Zeiten trägt.»


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Beitrag vom 19.09.2022

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