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Das Wallisermädi 6. Februar 2023

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (71) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Alle zwei Wochen erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der stillen Sehnsucht nach den verstorbenen Eltern..

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Als ich denke, nun gäbe es in meinem Arbeitszimmer wirklich nichts mehr aufzuräumen, fällt mir noch ein altes Buch in die Hände. «Walter Schmid – komm mit mir ins Wallis» ist auf dem Rücken kaum noch zu lesen. Auf den Buchdeckel ist in verblichener Goldfarbe das Walliser-Wappen mit seinen dreizehn Sternen geprägt, eingefasst von Ähren und Weintrauben. Schwarzweissfotos von arbeitenden Menschen, Eseln und Schafen, Stadeln und Kirchen, Bergspitzen und Bewässerungskanälen sind zwischen den Texten eingefügt. «Herrliches Land – tapferes Volk» heisst das erste Kapitel. Ein Erscheinungsdatum ist nirgends ersichtlich.

«Zur Ostern vom Wallissermädi» steht auf der allerersten Seite neben einer winzig kleinen Porträtaufnahme meiner Mutter. Einer unglaublich jungen Mama, mit einer dunklen Lockenmähne und einem Lächeln im Gesicht. Die ungelenken Buchstaben in Steinschrift haben Schnörkel und Verzierungen. Meine Mama, die nur wenige Sommerhalbjahre zur Schule gehen konnte und die ich nie in einem Buch habe lesen sehen, hatte diese Kostbarkeit ihrem Verlobten – meinem Vater – geschenkt. Nach seinem Tod vor drei Jahren nahm ich das Buch mit zu mir, mit vielen anderen Dingen aus dem Lebensschatz meiner Eltern.

Jetzt schaue ich es erst richtig an. Ich suche das Kapitel über das Turtmanntal, wo wir jeden Sommer unsere Ferien verbrachten. «Die Alpenrosen glühen mit dem tiefen Rot ihrer Kelche durch das dunkelgrüne Gestrüpp und das graue Gestein» schreibt der Autor. Vor dem Hotel in Gruben hätten sich die ersten Feriengäste unter die Gartenbäume geflüchtet, wo sie «das Geschäft des Verdauens mit einem Freiluftschläfchen zu erleichtern trachten». Mein Vater – belesen und interessiert – hat sicher jede einzelne Seite und jedes Foto genau studiert. Zwischen den Seiten 96 und 97 liegt ein gepresstes Edelweiss. Sorgfältig nehme ich es heraus und streiche über die immer noch pelzige Blüte. Wer hat es gepflückt? Meine Mutter, die schon als Kind mit dem «Veh» auf die Alp ziehen musste? Oder hat es mein Vater bei einer seiner späteren Bergtouren gefunden? 

Die junge Frau auf der ersten Buchseite rührt mich. Sie blickt so unschuldig und erwartungsfroh in die Zukunft. Ich muss das Foto immer wieder anschauen. Ich stelle mir vor, wie viel Mühe sie sich mit den vier Worten «Zur Ostern vom Wallissermädi» gegeben hat. Sicher wollte sie keinen Fehler machen und sich vor ihrem Verlobten, der ihr schulbildungsmässig so überlegen war, keine Blösse geben. Ich sehe sie vor mir, die lebenslustige Walliserin, wie sie ihrem trockenen Oberaargauer das Geschenk mit Herzklopfen und Vorfreude in einem besonderen Moment überreicht hat. 

Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass meine Eltern einst als Liebespaar durchs Leben gingen. Für uns Kinder waren sie einfach Mutter und Vater und immer schon alt. Meine Mama war auch nie meine beste Freundin. Und zur «filialen Reife», die sich laut Forschung durch eine Eltern-Kind-Beziehung auf Augenhöhe auszeichnet, habe ich es auch nicht gebracht. Trotzdem vermisse ich meine Eltern, gerade jetzt, im Februar, ihrem Todesmonat. Als würde ein feiner Trauerschleier über dem Alltag liegen. Früher hätte ich mich deswegen geniert. Jetzt bin ich froh um diese leise Sehnsucht: So behalten sie ihren festen Platz in meinem Leben.


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Beitrag vom 06.02.2023

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