
Das Leben bleibt 16. Juni 2025
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom bitteren Lernen, dass Sterben zum Leben gehört.
Turtel ist tot und Gürgül verschwunden. Was für ein Drama im Hühnerstall! Turtel verhedderte sich in der Schnur, mit welcher sich das Türchen zum Taubenschlag öffnen liess. Er war auf der Flucht, wahrscheinlich vor einem Marder. Davon zeugt das braune Fellbüschel am Gittertörchen. Die grosse Kleine ist untröstlich. Ausgerechnet Turtel, den sie und ihre Mama aufgepäppelt haben, nachdem er von Katzen gejagt und verletzt worden war. Da Tauben nicht allein gehalten werden dürfen, hatte ihr bald darauf ein Bauer Gürgül dazu geschenkt, und ihr Papa hatte dem Taubenpaar einen kleinen Schlag gebaut. Weiter als auf die nahe Lärche flogen die beiden nie. Doch nun ist Turtel tot und Gürgül in seinem Schreck auf Nimmerwiedersehen auf und davon.
Turtel wird beerdigt. Längst haben wir die Übersicht verloren, wer wo in unserem Garten begraben liegt: vier Hunde, wohl ein Dutzend Katzen und ein paar Hühner. Seit die junge Familie in unserem Generationenhaus wohnt, werden die toten Tiere nicht mehr einfach nur vergraben: Die grosse Kleine legt das Erdloch mit Blütenblättern aus und deckt den Körper damit zu. Sie schmückt das Grab und bemalt einen Stein mit dem entsprechenden Namen. Jedes Mal geht für sie eine kleine Welt unter, so war es auch beim Tod des uralten Mautsch: Mit unendlicher Geduld hatte sie diese verwilderte herrenlose Katze, die kaum noch gehen konnte, an sich gewöhnt. Die letzten Monate in Mautsch’s Leben waren wohl seine schönsten. Bis er eines Tages einfach tot umfiel. Ach, dieses Sterben! Und wie bitter die Erfahrung, dass es zum Leben gehört!
Als wir vor über vierzig Jahren ins Gürbetal zogen, erzwang ich Mann und Schwiegervater zum Trotz meinen ersten Hund: Bäri. Ein schwarz-weiss-braun gefärbtes Fellbündel mit einem Ringelschwänzchen. Eine richtige Bauernhofmischung eben. Bäri wuchs mit unseren Kindern heran. Er war mein vierbeiniger Gefährte. Auf so mancher Hunderunde kam ich innerlich zur Ruhe, ich konnte klarer denken und Sorgen verflüchtigten sich. Bäris Zuneigung war grenzenlos. Er war immer da und folgte uns auf Schritt und Tritt. Mit Sorge stellten wir fest, wie er älter und alt wurde. Als wir ihn schliesslich einschläfern mussten, war ich überwältigt von meinen eigenen Tränen. Ich hatte nie gedacht und hätte mir nicht vorstellen können, dass man um ein Tier derart weinen könnte. Ich spürte Bäris abgemagerten Körper in meinen Armen und schluchzte in sein struppiges Fell, als ihm die Tierärztin die Spritze setzte. Bäri war das erste Tier, das in unserem Garten begraben wurde.
Ich erinnere mich an ein Interview mit der ehemaligen Fernsehansagerin Marion Preuss. Sie hatte einen Dackel gehabt, den sie über alles liebte, und der sie auch zur Arbeit begleiten durfte. Im Gespräch sagte Marion Preuss, dass für sie ein neuer Hund niemals mehr in Frage käme. Zu gross sei der Abschiedsschmerz gewesen. Ich hatte auch erst mit unserem ersten Hund begriffen: Trauer ist der Preis, den man für die Liebe zu zahlen hat. Nicht nur für die Liebe zu Menschen, auch für die Liebe zu Tieren. Das erfährt schmerzlich auch die grosse Kleine.
Trotzdem möchte ich nicht darauf verzichten. Und so zog schon bald nach Bäri’s Tod ein neues Fellbündel bei uns ein – ein schwarzes, mit einem weissen Fleck auf der Brust. Bei der grossen Kleinen ist nach Mautsch Buffi gekommen, ein dicker weisser Kater, den sie ins Herz geschlossen hat. In den Taubenschlag wird sicher bald ein neues Taubenpaar einziehen – richtige Berner Weissschwanztauben, das weiss sie schon jetzt. Ich denke an den tröstenden Satz des Berner Schriftstellers Lorenz Marti: «Lebewesen kommen und gehen, das Leben bleibt».
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