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Das gelbe Postbüchlein 17. Juli 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von ungeliebten Zahlen, ungenügenden Rechennoten und unübersichtlichen Finanzen.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Pures Glück waren die Ferien bei meinen Oberaargauer Grosseltern! Nicht nur, dass sie liebevoll mit mir umgingen und immer Zeit für mich hatten. Sie trauten mir auch Dinge zu, die zu Hause kein Thema waren. Zum Beispiel das gelbe Postbüchlein: Ich sehe mich noch am Stubentisch sitzen, Grossmutters dunkel melierten Füllfederhalter in der Hand, vor mir die dünne Beige mit Einzahlungsscheinen und das gelbe Büchlein – das Empfangsscheinbuch, wie es offiziell hiess. In ihm waren alle getätigten Einzahlungen gesammelt. Jede Doppelseite bot Platz für fünf, links musste ich Empfänger und Kontonummer, rechts in einen schraffierten Balken die Höhe des Betrags eintragen.

Auf der Rückseite eines abgetrennten Empfangsscheins zählte ich mit Hilfe meiner Tante die Geldbeträge zusammen. Es waren keine grossen: für Futtermittel, den «Schweizer Bauer» oder fürs «Elektrische». Dieses Zettelchen kam zusammen mit den ausgefüllten Einzahlungsscheinen, dem gelben Büchlein und dem nötigen Geld mit auf die Post. Die Schalterbeamtin quittierte die einzelnen Posten im Büchlein mit ihrer Unterschrift und dem Stempel – in einem Tempo, das ich nach meinem Postbesuch jeweils mit einer Halma-Figur auf Zeitungsschnipsel nachzuahmen versuchte. Dann ratterte die mechanische Rechenmaschine, und ich wartete ungeduldig auf den Moment, wo die Postbeamtin fragte: «Wie viel hast du?» Stolz war ich, wenn mein Betrag mit dem ihren übereinstimmte. Das war fast immer der Fall.

Das gelbe Postbüchlein begleitete mich ins Erwachsenenleben als junge Lehrerin. Wenn der Briefträger an die Tür des Schulzimmers klopfte, wusste ich: Mein Lohn kommt – ein Tausender, vier Hunderter, einige Zwanziger- und Zehnernoten und ein paar Münzen. In meiner kleinen Dachwohnung machte ich anschliessend die Zahlungen wie zu Grossmutters Zeiten: Miete, Autofahrstunden, Krankenkasse, Telefon … Den Rest verputzte ich – meist bis auf den letzten Rappen. Von Sparen hatte ich keine Ahnung. Während ich Worte aus dem Vollen schöpfen konnte, blieben mir Zahlen ein Rätsel. Meine Schulnoten im Rechnen waren meist ungenügend gewesen und mehrmals musste mein Papa – Techniker und Zahlenmensch – zu seinem Leidwesen deswegen bei der Lehrerschaft antraben.

Ich hatte Glück: Der Gemeindeschreiber unseres Dorfes, mein Mann, beendete meine Zahlen-Wurstelei. Die nächsten Jahrzehnte hatte ich mich weder um Einzahlungen oder Kontostand, Ein- und Ausgaben, Versicherungen oder Altersvorsorge zu kümmern. Irgendwo in meinem Hinterkopf wusste ich zwar immer, dass ich auf meine finanzielle Ahnungslosigkeit nicht stolz zu sein brauchte. Als ich während Corona einen Schwerpunktartikel zum Thema Witwenschaft schrieb, wurde mir noch unbehaglicher: In der Schweiz leben rund 400’000 verwitwete Personen, vier Fünftel von ihnen sind Frauen. Eine Tatsache, mit der sich jede Frau – auch ich – auseinandersetzen sollte, dachte ich damals.

Jetzt muss es sein: Ich lasse mich von meinem Mann ins Geheimnis unserer Finanzen einführen. Ins E-Banking. Nicht in die Details, aber so, dass ich doch wenigstens Einzahlungen machen könnte oder wüsste, wie man bei der Krankenkasse Rückforderungen stellt. Mein Mann jongliert mit Zahlen, dass mir ganz schwindlig wird. Während sich mir ihre Bedeutung immer noch nicht erschliesst. Wie gern hätte ich mein gelbes Postbüchlein zurück!


  • Sehnen Sie sich auch nach Ihrem Postbüchlein zurück? Oder empfinden Sie E-Banking als Erleichterung? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon erzählen oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
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Beitrag vom 17.07.2023
  • Hasler Rita sagt:

    Ich will kein E-Banking machen und zwar aus Sicherheitsgründen wie Konto angeben!

    Warum wird heute alles kaputt gemacht, warum!

    Der Mensch wird immer mehr «ausgelassen»!

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