Stirbt die Gemeinde-Tageskarte?
Regelmässig erreichen uns Geschichten, Texte und Zuschriften unserer Leserinnen und Leser. Diese wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Heute: Roland Arnet über das mögliche Ende der Gemeinde-Tageskarte.
Sehr geehrte Redaktion
Ich bin seit 2007 Mitglied der Bahnjournalisten Schweiz und schreiberegelmässig in Fachzeitschriften. Nun komme ich mit einem Artikel, der mir am Herzen liegt und sicher auch für die Leserinnen und Abonnenten der Zeitlupe von Interesse sein könnte.
Herzliche Grüsse, Roland Arnet
Seit 2003 haben Hunderte von Gemeinden und Städte eine nicht kostendeckende Dienstleistung für den Umweltschutz grossartig mitgetragen – die Gemeinde-Tageskarte. Leider ist dieses Angebot schweizweit rückläufig und mit Corona kam das kränkelnde Top-Angebot nochmals so richtig unter Druck. Die 2020 gegründete jetzige Herausgeberin der Gemeinde-Tageskarte, die «Alliance SwissPass», stellte 2021 ein neues, unausgereiftes «Nachfolge-Produkt ab 2024» den Gemeinden und Städten mit einem Schreiben vor. Die führte zu grosser Verunsicherung und möglicherweise verstärkt dazu, dass nochmals eine grössere Anzahl von Gemeinden und Städte dieser Tageskarte den Rücken zukehrten. Aus Konsumentensicht besteht nun die grosse Gefahr, dass dem äusserst wertvollen, seit 20 Jahren bewährten Angebot für Nicht-Halbtax-Besitzer, der endgültige Todesstoss versetzt wird.
Etwas Bewährtes durch etwas «Neues» zu ersetzen ist wohl gut gemeint, kann aber zur Folge haben, dass das Tageskarte-Nachfolgeprodukt mit dem Bad ausgeschüttet wird. Insbesondere dann, wenn das neue Produkt schlechter ist und noch weniger Gemeinden im Verkaufssystem mitmachen. Noch bleibt etwas Zeit für eine öffentliche Diskussion, bevor möglicherweise die falschen Weichen gestellt werden. Waren Ende 2019 noch 4500 Jahres-Sätze von Gemeinde-Tageskarten im Umlauf, fielen die Verkaufszahlen dieses ehemaligen Top-Produkts im 2022 auf traurige 3500 Jahressätze.
Stetiger Rückgang der öffentlichen Verkaufsstellen
Die Antwort ist kurz und einleuchtend. Schon immer lag das Gesamtrisiko, genauer gesagt das Verlustrisiko, ausschliesslich bei den Gemeinden und Städten. Mit der letzten Preis-Erhöhung von 2016 auf stolze 14’000 Franken pro Jahressatz (365 unpersönliche Tageskarten) bekam das Angebot deutliche Schräglage. Parallel ging nämlich das SBB-Management mit neuen Top-Angeboten (Sparbillette, Spartageskarten) schweizweit und mit Erfolg auf Kundenfang, was die Nachfrage nach Gemeindetageskarten schmälerte.
Für die öffentliche Hand als Wiederverkäufer entstehen im Moment vorab pro Tageskarte Kosten von Fr. 38.35 ohne irgendeine Einflussnahme auf diese Preisgestaltung. Je nach Gemeindestruktur, Einzugsgebiet und Verkaufsphilosophie (nur an die eigenen Einwohner oder freier Verkauf) waren grössere oder kleinere Defizite im Gemeindebudget schon immer einkalkuliert. Seit 2016 erhöhten folglich auch alle Gemeinden den Verkaufspreis – gleichzeitig schafften viele Städte und Gemeinden seither diese defizitäre Dienstleistung ersatzlos ab. Konnte früher die Bevölkerung schweizweit zumeist in ihrer Wohngemeinde die Gemeinde-Tageskarte beziehen, müssen nun ihre Nutzer im Vorfeld einer geplanten Reise zumeist erst eine Auto- oder Velofahrt in eine Nachbargemeinde durchführen.
Die erwähnten Veränderungen habe ich mir in meiner Region (Aarau-Olten-Zofingen mit rund 270’000 Einwohnern) näher angeschaut. Hier kostet eine Tageskarte zwischen 40 und 50 Franken und schnell wurde mir klar, mit diesem für die Bevölkerung interessanten und hochwillkommenem Umwelt-Angebot keine Gemeinde Geld verdienen kann. Genau hier liegt auch das Problem des stetigen Rückgangs der Verkaufsstellen seit 2003. Alle nicht verkauften Tageskarten bleiben bei der öffentlichen Hand als Verlustgeschäft hängen und belasten so direkt die Gemeindefinanzen. Aus einem gut gemeinten und erfolgreichen Angebot für den Umweltschutz entstehen vermehrt negative Bilanzen. Das heisst, je schlechter die Finanzen einer Gemeinde waren, desto schneller verschwand auch das für die Bevölkerung äusserst wertvolle Angebot. Die Folgen beispielhaft in meiner Region: Winznau hat per 1. Juli 2022 die Tageskarte abgeschafft, 42 Franken war zuletzt ihr Preis. Die Kleingemeinde Rickenbach will weitermachen, hier kostet eine Tageskarte 50 Franken.
Problem bekannt, aber nie gelöst
Leider hat die Alliance SwissPass als Herausgeberin (resp. ihre Vorgängerin) dieses ungelöste Problem NIE wirklich bearbeitet. Nicht die jetzige Gemeinde-Tageskarte als gedruckte Version war und ist das Problem, sondern all die nicht verkauften Tageskarten, die seit Jahren zu Lasten der Allgemeinheit gingen. Aus diesem Grund kann es keiner Gemeinde verübelt werden, dass sie bei ungenügender Auslastung auf die künftige Erneuerung dieses teuren Jahresabos verzichtet. Bis 2019 war es ein langsames Sterben, nun hat sich der seit Jahren schleichende Prozess mit der CORONA-Krise stark beschleunigt. Die vielen ungenutzten Tageskarten von 2020 und 2021 haben bei fast allen Städten und Gemeinden tiefrote Verkaufszahlen hinterlassen. Als Folge von Corona und vielleicht auch ein wenig das im Oktober 2020 versandtes Schreiben von Alliance SwissPass mit der Ankündigung: «Abschaffung der bisherigen Gemeinde-Tageskarte auf Ende 2023» haben dazu geführt, dass nun viele Gemeinden auf eine Abo-Erneuerung verzichtet haben.
Noch einen Blick auf das bisherige Nutzer-Profil dieser Tageskarte: Es waren zu einem Teil die älteren Personen, die zumeist ohne ein Halbtax-Abo lebt. Bei ihren gelegentlichen Ausflügen reisten sie oft in Kleingruppen von zwei bis vier Personen und leisteten sich dafür eine Gemeinde-Tageskarte. Meine Befragungen haben ergeben, dass für sie das Bahnfahren zu kompliziert geworden ist, seit das flächendeckende Billettschalter-Netz überall durch Automaten ersetzt wurde. Ein weiterer Teil waren Reisende mit Halbtax-Abonnementen, die nach der Aufhebung der Billettschalter zu Nutzern der Gemeinde-Tageskarte wurden. Auslöser waren hier die mehrfach am Automaten falsch gelösten Billette, für welche diese Reisenden zu oft von fleissigen Kontrolleuren mit einer Busse für das Missgeschick bestraft wurden. Dies Nutzerinnen und Nutzer kauften über Jahre Gemeinde-Tageskarten auch teilweise für kleinere Reisen, damit ihre Bahnfahrt zum stressfreien Genuss wurde. Anfänglich waren die Verkaufsstellen die eigenen Gemeinde-Kanzleien, die für die Kundschaft zumeist zu Fuss erreichbar waren und so wurden die Gemeinde-Tageskarten für diese Vielfahrer-Gruppe zum Segen.
Doch die massive Reduktion der Gemeinden mit Verkaufsstelle hatte für die gesamten Bevölkerung unangenehme Folgen. Ein Teil der älteren Bewohner löste das nun entstandene Problem mit dem Kauf des für sie zumeist unwirtschaftlichen, aber sehr bequemen Generalabonnements. Doch viele Mitbürgerinnen und Mitbürger (die nebenbei auch Steuern zahlen) verzichtet seither auf längere Bahnreisen innerhalb der Schweiz. Zu teuer ist für sie ein Billett ohne Halbtax-Abo geworden und zu kompliziert die Beschaffung einer Gemeinde-Tageskarte. Die Sparangebote der SBB sind wiederum nur online erhältlich, was für viele Seniorinnen und Senioren eine Abschreckung bedeutet.
Corona als Auslöser oder Brandbeschleuniger?
Natürlich hat CORONA den Prozess vom Rückzug vieler Gemeinden vom defizitären Angebot schweizweit massiv beschleunigt, aber dies war eigentlich nur die logische Folge des seit 2003 existierenden Verkaufssystems mit dem Pauschalpreis, den die Gemeinden jedes Jahr bezahlen müssen. Die Risikoverteilung ist zu einseitig und zu unfair. Es wurde Zeit, dass die Gemeinde-Verkaufsstellen mit ihren übergeordneten politischen Behörden (Gemeinderäte) auf ihre Art rebelliert haben. Diese Quittung der öffentlichen Verkaufsstellen sollte die Verantwortlichen der Alliance SwissPass, des Schweizerischen Gemeindeverbandes (SGV) und des Schweizerischen Städteverbandes (SSV) aufschrecken oder zumindest nachdenklich machen. Noch haben sie gemeinsam die Möglichkeit zum Umdenken und können sich nochmals für ein paar Jahre zu Gunsten der jetzigen Gemeinde-Tageskarte aussprechen. Das neu angedachte Experiment könnte sonst möglicherweise noch weitere Orte zum endgültigen Verzicht auf den Tageskarten-Verkauf bewegen, was sehr schade wäre. Dass mit der Corona-Krise die Verkaufszahlen und die Anzahl Verkaufsstellen sanken, ist eine Tatsache. Doch das Kernproblem einer Defizitdeckung ist weiterhin ungelöst, denn die gesamten Verluste blieben seit Jahren bei den Gemeinden und Städten hängen. Die Korrektur dieses langjährigen Systemfehlers mit fehlender Rückvergütung zu Gunsten der öffentlichen Hand für nicht verkaufte Tageskarten ist jetzt zwingend notwendig. Mein Vorschlag wäre, die jetzige Gemeinde-Tageskarte auch nach 2023 unverändert weiter zu verkaufen und zuerst das langjährige Problem «Defizit» mit den Gemeinden und Städten zu lösen.
Dieses fast 20-jährige Top-Angebot hat es mehr als nur verdient, weiter zu leben. Allein die Einführung einer fairen Rückvergütung – egal, wie diese im Detail geregelt wird – könnte zur Folge haben, dass zumindest ein Teil der abgesprungenen Gemeinden wieder zur Gemeinde-Tageskarte zurückkehren würde. Es braucht nun einen mutigen Schritt in die Zukunft zum Nutzen der finanziell schwächsten Bevölkerungsschicht. Mein Appell an die Verantwortlichen der Alliance SwissPass und an die Vertreter des SGV respektive SSV: Baldmöglichst sollte ein Konzept für eine geregelte Rückvergütung umgesetzt werden. Die Gemeinde-Tageskarte dient vorab dem Umweltschutz, und sie war auch lange Zeit ein attraktives Produkt für die selten den öV benutzenden Mitmenschen. Dieses Angebot wurde speziell von Seniorinnen und Senioren (mit und ohne Halbtax) sehr geschätzt und auch genutzt. Ein geplanter Leistungsumbau durch ein Folgeprodukt kann heute noch nicht als die Lösung für ein künftiges öV-Angebot bei den Gemeinden und Städten betrachtet werden. Zuerst muss am jetzigen Hauptproblem des Verkaufsstellen-Rückgangs wegen der fehlenden Rückvergütung gearbeitet werden.
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