Berührende Erzählung über Demenz
Regelmässig erreichen uns Geschichten, Texte und Zuschriften unserer Leserinnen und Leser. Diese wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Heute: ein Text aus dem Buch «Nicht fragen, bitte» von Ruth Gygax.
Liebe Leserinnen und Leser
Es freut mich ausserordentlich, dass ich mein kleines Buch «Nicht fragen, bitte» hier vorstellen darf. Als Ergänzung zur umfassenden Fachliteratur über das Thema Demenz habe ich aus meinen beruflichen Erfahrungen diese Erzählung gemacht. Leicht lesbar und wahr.
Die Hauptperson Johanna leidet an der Alzheimer-Krankheit, es fehlt ihr folglich das aktuelle Gedächtnis. Und ihrer jugendlichen Begleiterin, Eva, fehlen gültige Papiere, sie ist eine «Sans papier».
Zusammen gehen sie durch die vier Jahreszeiten, die zugleich die Phasen der fortschreitenden Demenz beschreiben.
Herzliche Grüsse, Ruth Gygax
Ruth Gygax ist 82 Jahre alt und wurde im 45. Lebensjahr Witfrau. Von 1963 bis 1966 arbeitete sie als Krankenschwester im Diakonissenhaus Bern. Weiterbildungen waren ihr Hobby und ihre Überlebensstrategie. Neben dem Diplom zur Sozialarbeiterin (1972) bildete sich Ruth Gygax auch zur Dipl. Gerontologin und DCM-Anwenderin aus. Ruth Gygax hat einen Sohn, der ebenfalls verwitwet ist. Deshalb hat sie bedauerlicherweise keine Grosskinder. So konnte sie sehr viel Zeit für und mit Menschen mit Demenz verbringen – beruflich und im privaten Umfeld, als freischaffende Gerontologin bis vor 10 Jahren.
Leseprobe
Der Spiegel
Johanna steht im dem Badezimmer und zeigt vergnügt auf den Spiegel und lacht sich, ihr eigenes Spiegelbild, vergnügt an.
«Schau Eva, hier ist meine Mutter. Sie ist eben angekommen, sie wäscht sich nur rasch ihre Hände und dann trinken wir zusammen Tee.»
Eva ist verwirrt und verunsichert, es ist keine zweite Person anwesend. Hält Johanna ihr eigenes Spiegelbild für eine reale Person? Für ihre Mutter? Unmöglich!
Eva deckt den Teetisch, vorsorglich für drei Personen und wartet. Sie hört Johanna mit jemandem reden, fremdsprachig ? Eva versteht nichts und wartet geduldig weiter.
Johanna kommt sichtlich gut gelaunt und setzt sich an ihren Platz mit den Worten:
«Meine Mutter ist noch im Badezimmer und macht sich noch schön.»
Johanna schenkt Tee ein, in zwei nicht in drei Tassen.
Nicht fragen, nicht fragen nicht fragen, dröhnt es in Evas Ohren und im Herzen. Nie fragen, einfach geduldig warten.
Eva ist fast sicher, dass niemand im Badezimmer ist, jedoch ganz sicher ist sie bei Johanna nie.
Johanna nach einer Weile: «Mutter ist noch rasch Kekse holen gegangen, sie wird bald kommen, wir trinken schon mal unseren Tee, sonst wird er kalt.»
Schweigend trinken die beiden ungleichen Personen ihren Tee.
Das Schweigen belastet Eva und sie sucht nach einem Ausweg.
Einfach Geduld haben, würde Mia jetzt sage. Vera würde raten, ein Lied anzustimmen.
Guten Abend, gut Nacht passt nicht.
Da war noch ein Lied, ein Lied, das sie in der Schule gelernt hat. Eva summt und sucht die Worte, sie kommen ihr nicht in den Sinn. Johanna summt mit und plötzlich, o welch ein Wunder, Johanna singt, denn sie kennt die Worte:
Alle Vögel sind schon da,
alle Vögel alle
Amsel drossel Fink und Star
und die ganze Vogelschar
singen dir ein frohes Lied …
Mitten im Lied packt Johanna Eva am Arm und sagt:
«Komm, wir gehen auf den Balkon und schauen wie die Vögel auf dem Baum singen.»
Keine Vögel auf dem Baum – aus der Traum.
«Macht nichts», sagt Johanna, «ich verzaubere dich jetzt in einen Vogel, in einen Spatz.»
Und Eva schlagfertig: «Und Sie Johanna, sie sind, du bist, du bist» …. sie überlegt, und da nimmt Johanna ihr die Entscheidung ab und sagt:
«Ich, ich bin eine Möwe.»
Mehr zum Buch
«Ein Leben lang hatte ich mit alten Menschen zu tun, nun bin ich selber alt. Meine Erzählung ist ein Konzentrat meiner Erfahrungen, verbunden mit dem Wunsch, alten Menschen, ob sie nun fit, krank oder an einer Demenz leidend sind, mit Würde und Respekt zu begegnen.» Ruth Gygax
Erschienen ist das Buch «Nicht fragen, bitte» im August 2024 im R.G.Fischer Verlag Frankfurt (95 Seiten). Es wurde an der vergangenen Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Der R.G. Fischer Verlag stellt im Internet eine Leseprobe zur Verfügung.
«Nicht fragen, bitte» kann in jeder Buchhandlung gekauft oder bestellt werden. Online ist das Buch z.B. bei Ex libris oder Orell Füssli erhältlich (ab ca. CHF 22.–)